Harlekins Mond
nicht hätte erzählen sollen. »Daddy, ich bin mir nicht sicher. Möglicherweise habe ich uns in Gefahr gebracht.«
»Wir waren schon in Gefahr, als wir geboren wurden«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Du musstest eine Menge ertragen – und eine Menge Risiken eingehen. Mehr als ich selbst jemals auf mich nehmen wollte. Dafür bin ich stolz auf dich.«
Er kannte nicht einmal die Hälfte der Risiken, die sie eingegangen war. »Ich hoffe nur, es geht gut aus. Ich will Frieden, aber ich glaube nicht, dass wir den haben können. Ich hatte immer gedacht, es wäre möglich. Ich glaube, diese Vorstellung ist mit Jacob gestorben.«
»Mach weiter«, sagte ihr Vater zu ihr. »Gib den Kampf nicht auf. Du musst für uns gewinnen.« Sein Atem ging rasselnd, und er sah zu ihr hoch. »Aber versuch, den Frieden zu halten – das ist richtig. Das ist gut. Du machst das gut …«
Sie lächelte ihn an und wünschte, es wäre auch nur halb so einfach, wie er glaubte. Wie sie selbst einmal geglaubt hatte.
»Du hast dich immer um uns gekümmert. Kümmere dich weiter um Sarah – sie ist wie du.«
»Ich weiß. Ich werde es versuchen.«
Seine Augen schlössen sich erneut, und einige Augenblicke später wurde sein Griff fester, dann öffnete sich seine Hand und fiel herab. Er hörte auf zu atmen.
Rachel starrte ihm ins Gesicht. In diesem Augenblick war sie sicher, dass sie schon den ganzen Morgen lang gewusst hatte, dass er sterben würde. Der Zorn, den sie vergangene Nacht empfunden hatte, kehrte im Sturm zu ihr zurück. Die Räte hätten ihn retten können. Der Kälteschlaf hätte ihn retten können. Das machte die Sache sogar noch schlimmer als Jacobs Tod.
Mit einem Knall flog die Tür auf, und Justin kam hereingestürzt. »Andrew hat eine Kiste mit Ratswaffen gestohlen. Er hat uns am Hang hinter den Lagerhäusern zusammengerufen. Ich muss hingehen; ich muss ihn treffen. Aber ich wollte, dass du Bescheid weißt.«
Rachel sah auf; ihr Gesicht war tränenüberströmt.
Justin hielt inne, schöpfte Atem, und sein Blick fiel auf Frank. »Oh. Oh!«, stammelte er. »O mein Gott, er ist tot!« Alle Farbe wich aus seinen Zügen, und er streckte die Hand aus, um das Gesicht seines Vaters zu berühren.
»Rachel, das macht alles nur noch schlimmer. Wir können jetzt keinen Rückzieher machen. Das können wir einfach nicht. Sonst werden sie uns alle töten. Das ist für uns der Moment der Entscheidung!«
Rachel sah Justin an und erwiderte: »Wenn Andrew die Räte öffentlich und mit ihren eigenen Waffen bekämpft, dann ja -dann werden sie uns vielleicht wirklich alle töten.« Sie schüttelte den Kopf, stand auf und streckte die Hände nach ihrem Bruder aus.
»Ich muss gehen«, rief Justin. »O mein Gott, ich muss gehen!« Er wandte sich um und packte Rachel bei den Schultern. »Behalte Sarah hier. Behalt sie bei dir. Sie wird bald hier sein; ich bin eben an ihr vorbeigekommen.«
Rachel vernahm Untertans Stimme in ihrem Ohr. »Sammle deine Leute um dich. Ich werde versuchen, eure Sicherheit zu gewährleisten. Du musst dich von Andrew fernhalten.«
Laut sagte Rachel: »Was denkst du dir eigentlich, Justin? Bleib hier!« Ihr schnürte sich die Kehle zu. »Jacob ist tot. Willst du der Nächste sein, der stirbt?«
Justin wandte sich um, drückte Frank einen Kuss auf die kalte Stirn und erwiderte nur: »Die haben meinen Zwillingsbruder ermordet. Rette du Sarah!«
»Dann hol sie und bring sie her«, bat Rachel ihn. »Bleib bei uns!«
Untertan wiederholte: »Sammle diejenigen um dich, die bei dir bleiben werden.«
»Ich gehe!«, beharrte Justin mit zusammengebissenen Zähnen. »Deine Methode hat nicht funktioniert. Sie töten uns trotzdem.«
Rachel schüttelte den Kopf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Ja«, sagte sie, ohne sicher zu sein, ob ihre Antwort Justin galt, oder Untertan, oder beiden. Dann, mit mehr Nachdruck: »Ja, ich werde etwas tun.« Als sie sich umwandte, um Frank die Decke über das Gesicht zu ziehen, stürmte Justin zur Tür hinaus.
Rachel fiel es schwer, klar zu denken. Wie war Andrew an die Waffen gekommen? Wie sollte sie ohne ihren Vater weiterleben? Wer würde sie nun begrüßen, wenn sie heimkam? Wo waren ihre Leute? Wo war Beth, und war Sarah wirklich auf dem Weg zu ihr? Wie sollte sie alle zusammenholen? Ali war auf der John Glenn. Wo war Treesa? »Treesa«, schluchzte sie, »Treesa, was soll ich jetzt machen?«
Keine Antwort.
Jemand klopfte an der Tür. Rachel
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