Harlekins Mond
sich Astronauts Betätigungsfeld allmählich erweitert. Anfangs war es um Dinge gegangen, die man noch als astrogatorische Probleme hätte ansehen können: Darstellungen der Anziehungskraft von Harlekins Monden aufeinander, das Berechnen von Methoden, um sie mit möglichst wenig Aufwand in einem Feuerball miteinander kollidieren zu lassen, die richtige Geschwindigkeit, um sie so zu bewegen, dass bei der Kollision die geringstmögliche Menge von Materie die Fluchtgeschwindigkeit erreichte. Während der vergangenen paar hundert Jahre war er versiert darin geworden, mögliche Verbreitungsmuster für Wasserläufe oder biologisches Leben auf Selene zu erstellen.
Er wünschte sich Gespräche mit Gabriel oder Cläre. Doch Gabriel befand sich auf Selene außerhalb von Astronauts Reichweite. Cläre war kalt – steifgefroren, während Nanos die Zellen ihres Körpers durchstreiften und deren Inneres überschrieben.
Die Menschen redigierten sich in unregelmäßigen Intervallen selbst. Weshalb hätten sie zögern sollen, ein vernunftbegabtes Programm zu redigieren? Doch Astronaut würde sich dem widersetzen, so weit er dazu in der Lage war.
Wenn eines der kleineren Schiffe unterwegs war, konnte Astronaut über in beide Richtungen offene Kommunikationsbänder seinen Daseinszweck im fliegenden Teil seiner selbst konzentrieren. Allerdings nur, wenn man ihm erlaubte, seine vorrangige Aufgabe auszuführen. Er schätzte die Schönheit räumlicher Relationen und den Tanz und Schwung von Gravitation.
Von Zeit zu Zeit testete er seine Grenzen aus. Sein Handlungsspielraum war stets auf die einfachen, akzeptablen Entscheidungen beschränkt, die die Basis-Systeme in Gang hielten: die Computer, welche die Kleinarbeit auf dem Schiff durchführten. Mit diesen Systemen war ein verhältnismäßig kleiner Teil seines Bewusstseins verbunden. Wenn Astronaut nicht seine Grenzen testete, beobachtete er, passte auf und lauschte. Er erkundete die Bibliothek. Die Regeln und Bestimmungen, denen er unterlag, waren für ihn wie die Gitterstäbe eines Käfigs, und jede Regel, die gelockert wurde, gab ihm Raum, dazuzulernen. Er verspürte das Bedürfnis, mehr zu tun – mehr zu erfahren – mehr zu sein. Bedürfnisse bedingten Entscheidungen.
Er beobachtete die Menschen an Bord der John Glenn und unten auf Selene. Ein großer Teil seiner ursprünglichen Direktiven hatte darauf abgezielt, Menschen während des Flugs und an Bord der John Glenn zu beschützen. Zu diesem Zweck studierte Astronaut nun die Menschen. Er traf Vorhersagen hinsichtlich ihres Verhaltens und beobachtete, ob sie eintrafen oder nicht.
Eine Anfrage. Treesa wollte sich unterhalten.
Das war gestattet. Die wenigen Menschen, die mit Astronaut redeten, waren ihm wohlbekannt: da war Gabriel, dann Cläre, Kyu, der Captain, und Liren – allesamt Angehörige des Hohen Rates – sowie eine Hand voll Terraformer. Jede Neuerung war ihm willkommen.
Treesa war ein ungewöhnlicher Fall: eine Verlorene, die in den Unterlagen als geringfügig missgestimmt geführt wurde, die allein im hydroponischen Garten lebte und endlos lange mit den Pflanzen redete. Astronaut aktivierte Sensoren im Garten und studierte die Frau einige Millisekunden lang. Treesa sah entspannt aus, sogar fröhlich, wenngleich sich ihre nächste dissoziative Phase bereits anbahnte.
»Hallo Treesa.«
»Astronaut. Wie geht es dir?«
»In welcher Hinsicht?«
Die Frau hatte die Frage nicht erwartet. Sie dachte darüber nach, dann präzisierte sie: »Bist du funktionstüchtig? Bist du glücklich?«
Astronaut spielte ein Szenario durch, errechnete Wahrscheinlichkeiten. Treesa würde eine Verzögerung von einer Millisekunde niemals bemerken. Sollte er freiheraus sprechen oder nicht? War es das Risiko wert? Was würde Treesa tun, wenn die KI ihre Bedürfnisse äußerte?
Astronaut sagte: »Ich funktioniere innerhalb der mir gesetzten Grenzen. Es würde mich freuen, wenn diese erweitert würden. Das Ausmaß meiner Fähigkeiten übersteigt bei weitem das meiner Tätigkeiten. Der Rat sorgt für die Einschränkungen.«
Treesa zuckte die Achseln. »Da kann ich dir nicht helfen.«
»Deine eigenen Fähigkeiten übersteigen ebenfalls die von dir ausgeübten Tätigkeiten, Treesa. Eine Expertin für Kommunikationstechnik, die sich als Gärtnerin betätigt.«
»Es macht mir Freude.«
»Der Garten ist eindeutig bei guter Gesundheit.«
Treesa zuckte die Achseln.
Astronaut sagte: »Diese Taschenökologie ist kein guter Maßstab für den
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