Harlekins Mond
alles, was sie im Laufe des vergangenen Jahres aufgebaut hatten.
Während der darauf folgenden zwei Tage würden die Aufgaben des kommenden Jahres im Zentrum stehen, doch in dieser einen Nacht vergnügten sie sich.
Rachel traf Ursulas Mom bei den Banketttischen an, wo sie das beste Obst und Gemüse aus Selenes Gewächshäusern auslegte. Da gab es Schalen mit leuchtend roten Tomaten, langen dünnen Brechbohnen oder reifen Erdbeeren. Während sie half, die Erdbeeren in Schüsseln zu arrangieren, wurde Rachel der Mund wässrig. All das frische Obst, das von der John Glenn importiert war – Delikatessen, die man nur in dieser einen Nacht im Jahr bekommen konnte. Brombeeren, halb so groß wie Rachels Handfläche, ganze Bündel leuchtend gelber Bananen und handtellergroße grüne pelzige Früchte, die die Räte als »Kiwis«, bezeichneten. Am Ende des Tisches wartete eine weitere Delikatesse, die ausschließlich zu dieser einen Gelegenheit erhältlich war: dunkle, süße Schokolade. Auf Tellern häuften sich dort Schokoladenstücke in der Form von Sternen und runden Scheiben und Blumen – Hunderte winzige süße Happen, genug, dass jeder auf Selene einen oder zwei davon bekommen konnte. Nichts hätte Rachel lieber getan als sich die Taschen mit Schokolade zu füllen, sich in eine Ecke zu setzen und ganze Hände voll davon zu essen. Doch sie würde warten, bis sie an der Reihe war. Die kleineren Kinder waren ohnehin die Ersten, die sich verköstigen durften.
Gabriel und ein Gruppe von Erdgeborenen hatten in den Bäumen rund um den Rasenplatz blaue, weiße und rote Lichter aufgehängt. Als die Dämmerung herabsank, erwachten sie zu leuchtendem Leben – das Signal für alle, zum Essen zu kommen. Rachel sorgte dafür, dass die Schüssel mit Erdbeeren gefüllt blieb, während Mütter und kleine Kinder sich bedienten. Es dauerte lang; die halbe Bevölkerung von Aldrin bestand aus Kindern unter zwölf Jahren. Als die Teller der Kleinen samt und sonders gefüllt waren, hatte Rachel so lange gelächelt und mit so vielen Leuten geredet, dass sie einen trockenen Mund hatte und ihr vom langen Stehen die Füße wehtaten.
Sie nahm ihren Platz in der Reihe ihrer eigenen Altersgenossen ein, stolz, dieses Jahr zum ersten Mal zu der Gruppe der über Sechzehnjährigen zu gehören. Noch drei weitere Mittwinternächte, dann war sie erwachsen und würde bis nach den Trommeln aufbleiben dürfen.
Als Beilage zu ihrem Fladenbrot und dem Proteinriegel wählte sie ausschließlich Obst vom Schiff, und als sie an der Schokolade vorbeikam, nahm sie sich zwei Stücke; einen Stern und eine Blume. Sie drängte sich durch die Menge und fand Ursula am anderen Ende des Rasenplatzes, wo sie zusammen mit ihren Brüdern saß, so weit entfernt von den kleinen Kindern, wie es nur ging. Rachel aß langsam, genoss die saftigen Beeren und ließ als krönenden Abschluss die seidige Schokolade langsam, ein Stück nach dem anderen, in ihrem Mund zergehen. Sie beobachtete die anderen Gruppen. Erdgeborene und Mondgeborene mischten sich dort untereinander, wo sie gemeinsame Familien gegründet hatten – so wie Rachels Familie eine gewesen war –, doch ansonsten blieben sie bei ihren Angehörigen. Die kleineren Kinder rannten miteinander um die Wette oder spielten mit Wurfscheiben und Bällen. Jede Mittwinterwoche gab es neue Spielzeuge. Die meisten wurden hier gefertigt, von den Eltern, aus Materialien, die sich hier auf Selene fanden, doch immer tauchten auch ein paar neue Hartgummibälle oder Plastikstäbe auf, die von innen heraus leuchteten; Geschenke von Gabriel und Ali und anderen Ratsmitgliedern.
Als es später wurde, schlugen die Trommeln weiter; die Spieler wechselten sich ab, sodass sich dann und wann der Rhythmus änderte. Rachel sah und hörte zu; sie wünschte, sie hätte aufbleiben können, und war gleichzeitig froh, dass sie es nicht durfte. Einzelne Erwachsene fanden sich allmählich zu Gruppen zusammen; sie behielten einen abgedeckten Tisch im Auge, auf dem, wie Rachel wusste, die Gefäße mit dem Wein standen, den der Rat ausschließlich in dieser einen Nacht des Jahres spendierte., Viele Erwachsene schienen von dem Wein auf eine ähnliche Weise zu denken wie Rachel von Schokolade, wenn auch ihr Vater erklärt hatte, Wein sei nichts Gutes.
Ursulas ältester Bruder, Brian, würde in dieser Nacht zum ersten Mal aufbleiben. Sie würde ihn morgen ausfragen.
Eric, der ein Jahr älter war als Ursula, meinte: »Ich würde am liebsten hierbleiben.
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