Harlekins Mond
Rachel fühlte sich winzig und ehrfurchterfüllt.
»Mach die Augen zu!«, sagte Gabriel.
Sie gehorchte. Wieso sollte sie die Augen schließen? Sie spürte, wie der Schub der letzten Augenblicke des Flugs nachließ und dann ganz wegfiel, sodass ihr Körper gegen die Gurte aufstieg, die sie an Ort und Stelle hielten. Rachel umklammerte die Kanten ihres Liegesitzes und zog sich hinunter, sodass sie auf ganzer Länge mit ihm verbunden blieb. Ihr Magen drehte sich träge, ihr war nicht übel, aber etwas flau. Es fühlte sich ein wenig an, als wenn man einen Aufwind erwischte und sich von ihm tragen ließ, doch ohne den Zug von Schwingen an Schultern und Oberarmen.
»Wieso fühle ich mich so leicht?«
»Hier draußen gibt es keine Schwerkraft. Nach dem Abheben hast du dich durch den Schub des Antriebs schwer gefühlt, wie beim Starten mit einem Flugzeug. Wir bewegen uns immer noch mit hoher Geschwindigkeit, aber du fühlst es nicht mehr so.«
»Gibt es Schwerkraft auf der John Glenn?« »In den meisten Bereichen ja. Wird dir schlecht?« »N-Nein. Ich bin nur ein bisschen benommen.« »Gut. Jetzt öffne die Augen.« Gabriel klang aufgeregt. Ein andeutungsweise eiförmiger Himmelskörper hing im Zentrum ihres Blickfeldes. Braune, tiefrote und gelbe Farbschleier zogen sich über ihn hin, und gerade oberhalb der Mitte war ein gewaltiger Krater zu sehen, gefüllt mit kristallenem Blau. Das Meer der Hammerschläge! Selene!
Die Oberflächenstruktur wies lauter einander überlappende Kreise und Bögen auf. Blaue Äderchen verliefen auf der Oberfläche, folgten den Bögen oder sprangen von einem zum andern über, verzweigten sich wie Haarsträhnen und überzogen die Hälfte der Kugel mit feinen blauen Linien. Zwischen zwei kleineren Kratern wuchsen zwei winzige Flecken Grün.
»Oh«, rief sie. »Oh – es ist perfekt!« Sie lächelte verzückt, spürte, wie es ihr Innerstes ansprach, sogar noch stärker als an jenem Tag, an dem sie am Meer der Hammerschläge gestanden und mehr Wasser erblickt hatte, als ihrem damaligen Wissen nach überhaupt existierte.
»Nein«, sagte Gabriel, »es ist nicht perfekt. Siehst du, wo sich das Wasser in den beiden Kratern sammelt? Das hatten wir so nicht beabsichtigt – wir wollten ein einzelnes Meer. Und die Stellen, die zu rot sind? Dort gibt es zu viel Eisen. Fehlkalkulationen –«
Er sah das alles ganz falsch! »Schau doch nur, wie hübsch die Meere sind – was macht es denn schon, wenn sie nicht genau so geworden sind, wie du dachtest? Du hast dich doch vorher so darüber gefreut, dass du es mir von hier aus zeigen konntest, oder nicht? Mit Selene ist es wie mit meiner Gartenparzelle – sie ist sogar noch besser wegen der Fehler, um die ich herumarbeiten musste. Es ist unser Zuhause, Gabriel – und von hier aus ist es wunderschön. Ich habe nie gewusst, wie hübsch die Meere …« Ihre Worte perlten an Gabriel ab, ohne etwas an seinem Blick zu ändern. »Siehst du denn nicht –«
Gabriels Stimme klang unduldsam, als er sie unterbrach. »Wir haben das alles erschaffen, Rachel. Bevor wir hierher gekommen sind, hat es nichts davon gegeben. Selene war damals ein Felsbrocken von der Hälfte der heutigen Größe. Es ist nicht so, als wäre sie ein richtiger Planet.«
»Aber –«
»Es gibt hier draußen noch andere Dinge zu sehen.« Der Klang seiner Stimme veränderte sich. »Astronaut – verschaff uns einen Ausblick auf den Ring.« Mit den Fingerspitzen strich er über eine Leiste mit Lämpchen. Das kleine Schiff begann sich zu drehen, sodass Selene aus ihrem Sichtbereich herausfiel; an ihre Stelle rückten nun so viele Sterne, dass Rachel sie nicht zählen konnte … und sie war ringsherum davon umgeben, sodass sie neue Sterne entdeckte, die sie von Selene aus nie hatte sehen können. Drei dicht beieinanderstehende helle Sterne funkelten unter ihren Füßen. Ihr Magen machte erneut einen Satz, und sie schluckte. »Womit werden wir eigentlich angetrieben?«, fragte sie.
»Mit Batterien. Wir laden sie mit Antimaterie auf.«
»Antimaterie? Ich dachte, ihr hättet das Schiff leergeflogen!«
Gabriel lachte. »Für einen Flug dieser Art benötigen wir sehr wenig, Rachel. Aber um überhaupt eine nennenswerte Entfernung zurückzulegen – um auch nur zum nächstgelegenen Stern, den du siehst, zu reisen – dafür brauchen wir einen großen Vorrat.«
»Warum benutzen wir dann nicht Antimaterie zur Stromerzeugung auf Selene?« Sie dachte an all die Zeit, die ihr Dad mit der Wartung der
Weitere Kostenlose Bücher