Harlekins Mond
Instinktiv schaute sie sich nach Kyu Ho um. Die jedoch stand mit dem Rücken zu ihr, noch immer in eine lebhafte Unterhaltung mit dem hochgewachsenen Mann vertieft.
»Nun denn … eines der Kinder tritt auf den Plan«, sagte die Frau.
»Verzeihung?«
»Ein Kind von Selene. Nun werden wir sehen, was wir erschaffen haben.«
Rachel mochte den Tonfall der Frau nicht. Sie streckte die Hand aus. »Ich bin Rachel.«
»Hohe Ratsfrau Ma Liren.« Die Frau gab ihr nicht die Hand. »Ich war schon sehr gespannt darauf, dich zu studieren.«
Noch ein Mitglied des Hohen Rates? »Jeder hier scheint mich zu studieren.«
»Hat dir niemand etwas davon gesagt? Du bist gewissermaßen die Botschafterin der Kinder von Selene.« Ihre Augen wurden schmal. »Meine Aufgabe wird es sein, dich zu beurteilen -festzustellen, ob du tatsächlich in der Lage bist, uns zu helfen. Deshalb werde ich dich im Auge behalten. Sieh also zu, dass du immer darauf hörst, was man dir sagt.«
Irgendetwas an Ma Liren rief bei Rachel eine Gänsehaut hervor. Was sollte sie antworten? »Das werde ich. Ich arbeite hart.« Musste der Rat sie denn ständig prüfen? Kyu Ho war ihr gegenüber nicht so unverblümt gewesen.
»Das habe ich gesehen. Aber aus welchem Holz bist du geschnitzt? Begreifst du wirklich, warum du geboren wurdest?«
Rachel verhaspelte sich. »Nun, zunächst einmal mag ich Selene; ich pflanze dort. Ich liebe die Arbeit mit –«
Rachel spürte eine Hand auf ihrer Schulter, und als sie den Kopf wandte, stellte sie fest, dass Kyu Ho in steifer Haltung neben ihr stand.
»Hallo Liren«, sagte Kyu. »Es wird später noch genügend Gelegenheit zu Befragungen geben. Rachel ist erst einen Tag hier, und wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass ich sie während der ersten Woche einweisen würde.«
»Nun, dann sehen Sie zu, dass sie gut lernt.« Ma Liren erhob sich und ging davon.
»So ist sie immer«, sagte Kyu. »Ich schätze, das sind erst einmal genügend neue Eindrücke für einen Morgen. Bringen wir dich erst mal wieder zurück in dein Quartier.«
Rachel folgte Kyu zurück durch den Garten, wobei sie bemüht war, sich genügend Dinge einzuprägen, um sich später selbst zurechtzufinden. Sie erinnerte sich an das Symbol, das ihr Deck bezeichnete. Der Anblick ihrer Kabinentür war ihr nur zu willkommen.
Kyu blickte zu ihr hoch. »Du hast dich gut gehalten. Deine Medi-Werte sind nach wie vor stabil, aber du weist ein hohes Niveau an Ermüdungstoxinen auf. Ruh dich jetzt aus. Lauf nicht herum. In ein paar Stunden komme ich wieder und bringe dich zur Medizinischen Abteilung. Wir werden an deiner Anpassung an die Erdschwerkraft arbeiten.«
Die Tür schloss sich hinter der Hohen Rätin. Rachels Beine schmerzten von der ungewohnten und veränderlichen Schwerkraft; Rücken und Schultern fühlten sich an, als säßen in ihnen Stränge von pulsierenden Knoten. Sie schleppte sich zu ihrem Bett, schloss die Augen und ließ die Wunder des Gartens vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Dass es dort so viele Pflanzen gab, wirkte auf sie wie Magie. Und dieser gewaltige Baum – Yggdrasil – bestimmt würden die Bäume auf Selene nicht dermaßen groß werden? Es kam ihr vor, als wäre sie eine Woche lang aus ihrer Kabine fort gewesen, doch als sie nachschaute, waren es tatsächlich nur zwei Stunden. Sie musste gegen den Schlaf ankämpfen, als sie ihr Armbandgerät aktivierte und damit begann, ihre Erfahrungen für Harry aufzuzeichnen.
KAPITEL 15
INLINE-SKATING
Gabriel setzte sich und machte seine Dehnübungen auf einem kleinen Rasenfleck, wenige Meter entfernt von Kyu, die an diesem Tag ganz in Purpur und Gelb gekleidet war und aussah wie ein zierlicher orientalischer Schmetterling. Der Garten umgab sie mit Hunderten Schattierungen von Grün, Blau und Braun, gesprenkelt mit gelben, weißen und purpurroten Blumen. Pflanzenpflegeroboter und schwebende Lampen flitzten über ihnen dahin, und dazwischen dann und wann auch ein Besatzungsmitglied. Ein besonders buntes Paar Schwingen flog vorbei, und Gabriel tippte Kyu auf die Schulter, um sie darauf aufmerksam zu machen. Kyu blickte hinauf und lachte.
»Wie geht es Rachel?«, fragte Gabriel. »Hat die eine Woche auf dem Schiff sie geschafft?«
»Sie lernt schnell – die Arbeit scheint ihr Spaß zu machen. Ich habe vor, ihr gewisse Datenrechte einzuräumen.«
»Wieso?«
»Bis jetzt hat sie exakt das bekommen, was sie auf Selene zu wissen braucht, und sonst gar nichts. Sie entwickelt nicht die
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