Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
verzweifelt daran, was die Bullen in Filmen immer sagten. Bring ihn dazu zu reden. Dann tut er dir nichts.
Plötzlich fühlte sie, wie sich die Hand von ihrem Mund löste. Ethan drehte sie, ohne seinen Griff zu lockern, zu sich um. Nun stand sie ihm direkt gegenüber.
Er hatte sich bestimmt seit zwei Tagen nicht rasiert. Sein Gesicht hatte einen dunklen Schatten bekommen und die Augen, die wie Opale schillerten, schienen noch größer geworden zu sein.
Das Zweite, was ihr auffiel, war der Ausdruck in seinem Gesicht. Er war – sie konnte es nicht anders ausdrücken – verloren. Geradezu ängstlich.
»Das, was ich dir zu erzählen habe, wird dir nicht gefallen«, sagte er leise. Noch immer lockerte er seinen Griff nicht. »Ich habe ewig überlegt, wie ich dir das beibringen kann. Es ist nicht fair, was ich jetzt tue. Aber ich muss es machen. Ich weiß sonst nicht mehr weiter.«
Liv starrte ihn an. Sie dachte an die tote Rachel draußen im Baumhaus. Sie sah ihre schmalen Züge vor sich und die aufgerissenen Augen. Würde sie auch so enden? Sie versuchte noch einmal, sich loszumachen. Keine Chance.
Nimm dich zusammen! Rede mit ihm.
»Okay«, sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Du weißt nicht mehr weiter? Dann frag mal mich. Was zum Teufel willst du hier? Was willst du von mir?«
Ethan stöhnte. »Das lässt sich nicht so einfach beantworten!«
»Ach nein?« Liv spürte, wie das Adrenalin ihre Angst wegschwemmte. »Für mich hört sich das aber ganz einfach an. Du Scheißkerl hast irgendeine Obsession für mich, weshalb du mich überfällst, bedrohst, verfolgst. Oder vielleicht ist es noch schlimmer. Du bist total irre. Vielleicht hat die Polizei den Mörder doch laufen lassen. Wer weiß schon, wozu du wirklich in der Lage bist?«
»Du meinst Rachel?«
»Wen sonst?«
Ethans Augen füllten sich mit Tränen. Sein Griff lockerte sich und Liv nutzte die Gelegenheit, um sich mit einem Ruck loszureißen. Mit einem Satz brachte sie ihr Bett zwischen sich und Ethan. Zu ihrem Erstaunen reagierte Ethan darauf gar nicht. Er wischte sich unwillig über die Augen und ging dann einen Schritt zurück. »Liv, ich habe Rachel über alles geliebt. Ich hätte ihr nie etwas antun können. Aber der Scheißkerl, der ihr …«
Ethan ballte die Fäuste. Mit einer blitzschnellen Bewegung drehte er sich zu Livs Schreibtisch um und ließ seine Faust auf die Holzplatte sausen. Es gab ein krachendes Geräusch und Liv zuckte zusammen. Aber merkwürdigerweise war es dieser Ausbruch, der sie davon abhielt, zum Fenster zu rennen, es aufzureißen und um Hilfe zu schreien. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie die ganze Zeit auf dem Holzweg gewesen war. Ethan hatte wirklich nichts mit Rachels Tod zu tun. Es wäre … zu offensichtlich gewesen. Und die Verzweiflung, in seinem Gesicht und in seiner Stimme, konnte nicht gespielt sein, es sei denn, Ethan wäre der beste Schauspieler, den sie je gesehen hatte.
»Was wolltest du mir sagen, was ich nicht verstehen werde?«, fragte sie leise.
Er schaute sie lange an. Sein Gesicht war ihr zugewandt. Er schien zu überlegen, mit sich zu ringen.
Dann drehte er sich um, nahm das Telefon, das auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, und gab es ihr.
»Hier«, sagte er. »Du kannst die Polizei rufen oder schreien oder aus dem Haus laufen. Ich werde dich nicht daran hindern. Aber du kannst mir auch die Chance geben, dir meine Unschuld zu beweisen. Zu verstehen, was hier geschieht.«
Liv fühlte das glatte Material des Telefons in ihrer Hand. Ein Tastendruck, dann hätte sie das Sheriffs Office am anderen Ende der Leitung.
Ethan beobachtete jede ihrer Bewegungen.
»Okay, ich gebe dir genau eine Chance«, sagte Liv und ließ ihn nicht aus den Augen. »Wer war es? Wer hat Rachel umgebracht?«
Ethan stöhnte, dann wischte er sich mit der Hand über die Stirn. »Wenn ich dir das sage, wirst du es mir nicht glauben.«
In ihrem Kopf tauchte ein Name auf – ganz unvermittelt. Ein Name, der allem, was sich hier abspielte, einen Sinn gab.
»Daniel?«
Ethan sah sie lange und traurig an. Dann ging er einfach an ihr vorbei zur Tür. »Ich habe mich geirrt«, sagte er leise. »Ich kann das nicht. Ich kann nicht derjenige sein, der es dir sagt. Nicht dir.« Er sperrte die Tür auf und öffnete sie. »Ich bin so ein Idiot gewesen.« Er verharrte, dann drehte er sich noch einmal zu ihr um, kam wieder näher. Ehe Liv reagieren konnte, beugte er sich vor und hob die Hand, wie um
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