Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
ihr Bruder mit Rachel und Ethan zu tun? Warum hatte er sie angelogen, als er behauptete, dass er sie fast gar nicht gekannt hatte? Sie dachte an den Nachmittag im Diner zurück, nachdem Rachel gestorben war. Sie hatte Jessie nach Ethan gefragt und sie wusste noch genau, welche Antwort er gegeben hatte.
»Na ja, kennen ist zu viel gesagt.«
Und dann seine Lüge heute Morgen auf dem Parkplatz.
»Vier einfache Worte, Liv, okay? Ich. Kenne. Ethan. Nicht. Hab nie etwas mit ihm zu tun gehabt.«
Was sonst hatte er ihr verschwiegen? Wieso hatte er ihr nicht die Wahrheit gesagt?
Immer noch flackerten die Bilder über die Leinwand, es schien eine Endlosschleife zu sein und Liv konnte sie nicht mehr ertragen, konnte nicht mehr in die lachenden und glücklichen Gesichter sehen. Sie ertrug Rachels Leuchten nicht länger, die jetzt tot war. Keuchend rannte sie zur Anlage und hämmerte auf den Knopf, damit der Player die DVD herauswarf – dann schaltete sie die Musik aus.
Stille.
Endlich.
Einen Ausschalter für ihre Gedanken gab es nicht.
Sie betrachtete die silberne Scheibe in ihrer Hand, sie war unbeschriftet. Ethan hatte vorhin versucht, mit ihr zu sprechen.
»Wenn ich dir das sage, wirst du es mir nicht glauben.«
Er hatte nicht Daniel gemeint, sondern Jessie, ihren großen Bruder.
Und dann hatte er einen anderen Weg gefunden, Liv zu zeigen, dass ihr Bruder ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte.
Aber um welche Wahrheit ging es hier? Um Rachel?
Nein!
Was dann? Sie schloss die Augen. Ihr Bruder war ein Typ, der geradeheraus war. Doch er hatte auch eine Seite, die er nie ganz in den Griff bekam. Er geriet schnell außer sich. Wie heute Morgen, als er plötzlich und ohne Vorwarnung ausgerastet war.
Sie versuchte, tief durchzuatmen. Ihr war übel, aber sie zwang sich, sich die Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Jessie hatte an dem Abend, als Rachel gestorben war, sein Handy gesucht. Das war alles, woran Liv sich konkret erinnerte. Nein, da war noch ein Detail: Jessie, wie er leichenblass in seiner Jacke im Flur stand, als sie an ihm vorbei in den Vorgarten gerast war.
Liv sank der Mut. Aber trotzdem, ein Gesichtsausdruck war noch kein Beweis. Fakten, Liv! Die Fakten.
Und dann fiel es ihr plötzlich ein und ihre Beine begannen zu zittern. Sie ließ sich aus Sofa fallen. Die Mail. Wie hatte sie das übersehen können? In der Nachricht hatte der Kindervers gestanden, den außer Jessie nur ihre Eltern kannten.
Ring around the treehouse
Pockets full of blind mouse
Livvie, Jessie!
We all fall down
Jessie war der Einzige, der in dem ganzen Trubel nach dem Polizeiverhör schnell in ihr Zimmer hätte gehen können, um die Nachricht von ihrem Laptop zu löschen.
Sie spürte, wie ihre Augen begannen, sich mit Tränen zu füllen. Nein, nicht Jessie . Ihr Bruder, der so sehr großer Bruder war, dass er jedes Klischee erfüllte. Sie dachte daran, wie sie in die Schule gekommen war und der eklige Max ihr vom ersten Tag an das Leben schwer gemacht hatte. Jessie hatte ihn sich geschnappt und Max war mit einer blutenden Nase heulend nach Hause gerannt. Sie dachte an das Camp, in dem sie gewesen waren, als Jessie zehn und Liv acht Jahre alt gewesen war. Eine der Betreuerinnen mochte Liv nicht. Jessie legte ihr Giftsumach ins Bett und die Betreuerin, die allergisch reagierte, musste angeschwollen wie ein Luftballon nach Hause fahren.
Oder später, als Liv älter wurde und auf Partys ging. Ihr Vater hatte ihr verboten, länger als bis elf Uhr wegzubleiben, aber Jessie hatte sie heimlich später abgeholt und hatte sich mit ihrem Vater angelegt, als das herauskam.
Liv öffnete die Augen wieder. Sie war keinen Schritt weiter. Das alles half ihr nicht, wenn sie darüber nachdachte, was ihr großer Bruder ihr verschwiegen hatte. Und was Ethan ihr sagen wollte.
Ethan war mit Rachel zusammen gewesen. Sie waren unzertrennlich, das hatte Jessie selbst gesagt. Aber welche Rolle spielte ihr Bruder in diesem Dreierpack? Die drei waren vertraut gewesen, das zeigte das Video deutlich. Nicht nur vertraut, sondern Freunde. Sie sahen aus, als hätten sie alles füreinander getan.
Alles? Wirklich alles? Sie dachte an die blicklosen Augen von Rachel, die tot im Baumhaus gelehnt hatte.
Und dann kam plötzlich Leben in Liv. Sie rannte in die Küche und griff nach ihrem Handy. Mit einem Tastengriff hatte sie die Nummer aufgerufen. Das Freizeichen ertönte. Dreimal. Viermal.
Endlich wurde abgehoben, aber da war nur Rauschen in der
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