Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
Leitung.
»Jessie? Bist du dran?«
»Liv.« Ihr großer Bruder klang abgehetzt. »Jetzt nicht.«
»Was soll das heißen, jetzt nicht?« Liv spürte, wie ein dicker großer Felsbrocken in ihren Magen sank, weiter nach unten, immer weiter, er zog sie mit in die Tiefe.
»Wo bist du?«, fragte sie panisch. Jetzt konnte nur Jessie den Absturz verhindern, die drohende furchtbare Schwärze, die am Abgrund dieser Gedanken lauerte. »Ich muss mit dir reden. Sofort!«
»Ich kann nicht mit dir reden, Liv.« Jessies Stimme klang gepresst. Im Hintergrund hörte man ein lautes Ticken, es klang wie eine automatische Uhr.
»Wo bist du?«
»Später!«
»Was, später? Willst du mir später erklären, dass du gelogen hast? Dass du Rachel sehr wohl kanntest? Genau wie Ethan?«
Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog.
»Ich weiß alles, kapierst du? Rachel und du – ihr seid Freunde gewesen! Ethan war hier bei mir. Was ist los mit dir? Warum sprichst du nicht mit mir? Erklär es mir.«
Ein Knacken in der Leitung, dann ertönte wieder das Freizeichen. Jessie hatte aufgelegt.
Liv starrte auf ihr Handy.
Sie versuchte es wieder bei ihrem Bruder. Dann noch einmal.
Aber die Leitung blieb tot.
22
Liv keuchte, als sie mit dem Fahrrad in die River Alley abbog. Sie achtete nicht auf das Hupen der Autos, die ihr entgegenkamen. Mittlerweile war es dunkel geworden, aber Liv hatte sich nicht die Zeit genommen, die Lampen an ihr Fahrrad zu klicken.
Sie wusste, wo Jessie war. Das Ticken hatte sie darauf gebracht, es war der automatische Zeitnehmer am Sportplatz der Schule, da war sie sich ganz sicher.
Während sie wie eine Verrückte in die Pedale trat, schossen ihr Bilder der vergangenen Tage durch den Kopf. Sie sah die tote Rachel im Baumhaus, gleich darauf sich selbst im Fitnessraum, kurz bevor der Fernseher ausging. Sie sah ihren Bruder Jessie, wie er mit ihr im Auto saß und leugnete, Rachel je gekannt zu haben. Sie sah sich an ihrem Schreibtisch sitzen und auf die Mail starren, die ihren ganz privaten Kindervers enthielt.
Und immer wieder tauchte ein Wort in ihren Gedanken auf.
Warum?
Warum sollte das jemand tun? Warum sollte Jessie ihr eine Nachricht schicken, die dazu führte, dass sie die Leiche im Vorgarten fand? Es ergab überhaupt keinen Sinn. Warum sollte jemand sie im Dunkeln bedrohen?
Ihre Rolle in diesem Spiel war etwas, das sie erst verwirrt hatte – aber jetzt war es noch schlimmer. Es trieb sie an den Rand des Abgrunds.
Jessie. Ethan. Rachel.
Und da war noch Daniel, der sie angelogen hatte, genau wie ihr Bruder. Warum war er nicht gekommen, obwohl er es per SMS angekündigt hatte? Und vor allem – warum war er in Eerie geblieben?
Das Kreischen von Bremsen riss Liv aus ihren Gedanken. Sie hatte, ohne rechts und links zu schauen, den Eerie Parkway überquert und wäre fast von einem Pick-up angefahren worden, der ihr im letzten Moment noch ausweichen konnte.
»Bist du wahnsinnig geworden?«, brüllte ein langhaariger Fünfzigjähriger im karierten Hemd. »Wenn du Liebeskummer hast, bring dich gefälligst allein um, aber zieh mich nicht da mit rein.«
Er drückte wütend auf die Hupe, dann gab er Gas.
Liv spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Jetzt nicht weinen, dachte sie. Sie musste einen klaren Kopf behalten. Weinen konnte sie später, wenn das alles vorbei war. Aber jetzt musste sie erst mal Jessie finden.
Sie bog vom Eerie Parkway in den Memorial Boulevard ein, der in einer Sackgasse mündete und an dessen Ende die Eerie High lag. Die Straße war menschenleer, kein Auto und keine Fußgänger waren zu sehen. Trotz aller Aufregung fiel Liv das auf, es war noch nicht einmal neun Uhr. In der Schule fanden abends häufig Veranstaltungen statt oder Lehrerkonferenzen, doch heute war das gedrungene Gebäude vor ihr stockdunkel. Kein Lichtschein drang aus der Aula oder aus dem Lehrerzimmer. Aber nein, das stimmte nicht. Die Hausmeisterwohnung, die an den naturwissenschaftlichen Trakt angrenzte, war beleuchtet.
Sie sah hinüber zu den Sportplätzen. Niemand, nicht mal ein einsamer Läufer, der seine Bahnen zog, war zu sehen.
Aber Jessie war hier gewesen, sie hatte es ganz deutlich gehört.
Sie warf ihr Fahrrad achtlos vor dem Torbogen des Campus auf den Boden und lief hinüber zum Haupteingang. Sie rüttelte an der Tür. Verschlossen. Natürlich.
Ohne länger zu überlegen, rannte sie los. Sie passierte die Turnhalle und die leeren Trainingsbahnen, kam an dem Gedenkstein für die
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