Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
Fall.
Sie sah ihn nicht kommen.
Sie hörte ihn nicht.
Sie fühlte nur die Hand auf ihrem Mund, die ihren Schrei erstickte.
Zwei Jahre zuvor, Raum 213
Ethan wünschte sich nur noch, einschlafen zu können. Mit dem Schlaf würde das Vergessen kommen und mit dem Aufwachen – vielleicht – die Realität.
Er hatte es versucht, hatte sich in einer Ecke zusammengekauert, den Kopf auf seine zusammengerollte Jacke gelegt. Er hatte die Augen geschlossen, hatte sogar ein paar der grässlichen Meditationsübungen gemacht, die ihnen mal eine Kunstlehrerin gezeigt hatte. Aber es hatte nichts genützt. Er konnte nicht schlafen, obwohl er so müde war, dass das Wachbleiben zur Folter wurde.
Es war, als ließe ihn der Raum nicht zur Ruhe kommen. In Raum 213 gab es keinen Schlaf, zumindest keinen, der Vergessen versprach. Deswegen saß er nun auf der Fensterbank und blickte in den dunklen Innenhof. Die Lampen, die über das Gelände der Eerie High verteilt waren, schimmerten grünlich gelb. Früher hätte Ethan dieses Licht spooky gefunden. Heute wusste er, was wirklich gespenstisch war. Und was echter Horror war.
Er dachte an den Bro und das, was er jetzt tat. War er weggegangen? War über die Schulflure nach draußen geschlendert, um ihn hier seinem Schicksal zu überlassen?
Am Himmel blitzte ein Licht auf. Ethan blickte nach oben. Dichte graugelbe Wolken türmten sich in der Dunkelheit auf, kein Stern war zu sehen. Das Licht kam schnell näher, ein Flugzeug offenbar, es flog tiefer, als es Ethan je gesehen hatte. Dann plötzlich war es verschwunden, eine der dicken schwarzen Wolken hatte es geschluckt.
Ethan ließ seinen Blick weiter über die Sportplätze wandern, bis zum Spielplatz, der verlassen vor der Mauer des Innenhofs lag. Von hier aus waren nur die Umrisse der Spielgeräte zu erkennen, das kleine Haus, in dem er und Rachel so oft gesessen hatten, und die verrostete Rutsche.
Verlassen? Nein, er hatte sich getäuscht. Plötzlich spürte Ethan, wie jähe Hoffnung in ihm hochstieg.
Da war eine Gestalt. Kind oder Erwachsener? Er konnte es nicht genau sagen, die Dunkelheit verbarg zu viele Einzelheiten. Ethan dachte unwillkürlich an den Sohn des Hausmeisters, der zu den unmöglichsten Zeiten dort auf der Schaukel saß.
Die Gestalt drehte den Kopf, drehte ihn genau zu Ethans Fenster.
Nein, das war kein Kind! Das war jemand, der ihm helfen konnte!
Hatte er ihn gesehen? Ethan sprang auf, raste zum Lichtschalter und hämmerte darauf. Licht durchflutete den Raum, der bisher dunkel gewesen war. Er sprang auf das Fensterbrett und winkte mit beiden Armen wie ein Wilder.
Und tatsächlich! Die Gestalt machte ein paar Schritte auf das Gebäude zu, direkt unter eine Lampe. Und dann hob sie die Hand und winkte zurück.
Doch Ethan konnte das Winken nicht erwidern.
Denn jetzt im Licht der Laterne konnte er erkennen, dass es nicht der Sohn des Hausmeisters war, den er da sah. Sondern der Bro.
Er winkte und lächelte ihm zu, und dann drehte er sich um und ging davon.
20
»Bitte schrei nicht, Liv.« Ethans Stimme klang dicht an ihrem Ohr. »Ich bin nicht hier, um dir Angst einzujagen. Eher das Gegenteil.«
Liv spürte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte. Ethan hielt sie mit einem Arm umklammert, während er noch immer eine Hand auf ihren Mund presste.
Ihr Blick irrte durch das Zimmer. Es musste doch irgendetwas geben, mit dem sie ihn ablenken konnte. Wieder versuchte sie sich aus seinem Griff zu winden, doch Ethan hatte Muskeln wie Stahl. Sie hob versuchsweise ihren Fuß, vielleicht konnte sie ihn irgendwie treten, direkt in die Eier, diesen Mistkerl, doch kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, drückte er sie gegen die Wand und machte sie völlig bewegungsunfähig.
»Ich weiß, was du jetzt denkst.« Ethans Stimme klang flach. »Und ich kann es dir nicht übel nehmen. Ich bin in dieser Geschichte der klassische Bösewicht, oder? Und daran bin ich selbst schuld. Aber alles, was ich will, ist eine Chance, dir zu erklären, was wirklich passiert ist. Nur eine Chance.«
Sein Griff an ihrem Mund lockerte sich ein bisschen. »In ein Haus einzubrechen und mich zu überfallen macht dich aber auch nicht zum klassischen Helden in dieser Geschichte«, presste Liv heraus. Ihr war mittlerweile klar geworden, dass es keinen Sinn hatte loszuschreien. Die Fenster ihres Zimmers waren fest verschlossen und die Straße oder das nächste Haus waren viel zu weit weg, als dass jemand sie hätte hören können. Sie dachte
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