Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
Flugzeugabsturzopfer von 1965 vorbei, der von einer der grünlich leuchtenden Halogenlampen angeleuchtet wurde, die über den ganzen Campus verteilt waren.
»Jessie?«, brüllte sie in die gespenstische Stille. »Jessie, bist du hier?«
Keine Antwort.
Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Irgendetwas stimmte hier nicht, das wusste Liv ganz genau – und ihr Verstand sagte ihr auch, dass sie sofort umdrehen und nach Hause fahren sollte. Alles in ihr schrie »Gefahr«, uralte Instinkte, die trotz unzähliger Jahre Zivilisation noch funktionierten, Instinkte, die dem Menschen das Überleben überhaupt erst möglich gemacht hatten.
Und dennoch ging sie weiter. Denn wenn sie jetzt umdrehte, würde sie aufgeben. Und das kam nicht infrage. Sie wollte sich nicht in ihrem Zimmer verkriechen, sondern sie wollte endlich wissen, was gespielt wurde.
Kaum hatte sie diesen Gedanken beendet, sah sie es. Es war ein kleines Licht irgendwo weiter vorn, das hin und herschwankte wie eine Taschenlampe, die von jemandem getragen wurde.
Liv blieb stehen. In diesem Moment erstarrte auch der Lichtkegel und jetzt konnte Liv erkennen, dass der Schein direkt aus dem kleinen Spielhäuschen auf dem verlassenen Spielplatz kam.
Und noch etwas konnte Liv sehen. Die dunkle Gestalt dahinter, die auf jemanden zu warten schien.
Auf sie.
Wie in Zeitlupe setzte Liv sich in Bewegung. Ein Schritt vor den anderen. Noch zehn Meter. Sie spürte den rauen Untergrund unter den dünnen Sohlen ihrer Turnschuhe. Noch fünf Meter.
Jetzt bemerkte sie, dass sie sich getäuscht hatte. Die Gestalt hielt die Lampe nicht in der Hand, sondern sie war auf dem Bänkchen im Spielhaus abgelegt. Und derjenige – Liv sah an den breiten Schultern, dass es ein Mann war – hatte ihr den Rücken zugedreht.
Lautlos schlich sie weiter.
Noch drei Meter.
Jetzt erkannte sie, wen sie vor sich hatte.
Ihre Stimme klang wie die eines Kindes, verängstigt, verschüchtert. »Was …«
Die Gestalt fuhr herum. Ihr Gesicht sah aus wie eine Maske des Zorns. Die Augen waren weit aufgerissen, das Weiße blitzte, und nichts, aber auch nichts erinnerte mehr an die Person, die er einmal gewesen war.
Livs großer Bruder Jessie. Ihr Bruder, der sie zur Schule fuhr, der für sie log, wenn sie zu spät nach Hause kam, der für sie durchs Feuer ging.
In seiner Hand hielt er ein Messer.
23
Liv rannte los.
Sie dachte nicht nach. Es war dieser Ausdruck in Jessies Gesicht, der blanke Wahnsinn, der sie schneller machte, als sie es je für möglich gehalten hatte.
Ein Schluchzen saß in ihrer Kehle, aber sie konzentrierte sich, um es nicht herauszulassen, sie brauchte alle Kraft für die Flucht.
»Liv!« Jessie brüllte hinter ihr her und auch seine Stimme klang nicht mehr nach ihm. »Bleib sofort stehen. Jetzt!«
Da war so viel Wut und so viel Abgründiges in dem Ruf, dass Liv instinktiv wusste, dass sie um ihr Leben rannte. Sie machte sich keine Gedanken mehr um das Warum, sondern sie reagierte einfach nur, wie es ihre Instinkte vorgaben. All ihre Sinne waren geschärft und auf ein Ziel gerichtet: Überleben.
Sie war über den Rasen quer hinüber zu den Sportplätzen gerast, hatte aber im letzten Moment einen Haken geschlagen. Jessie war schneller als sie – er würde sie auf offener Strecke sofort einholen und zu Boden werfen.
Ihr Blick raste hinüber zum naturwissenschaftlichen Trakt, wo das Licht in der Hausmeisterwohnung brannte. Das war zu weit, das war viel zu weit weg.
Sie hörte ein Keuchen hinter sich, vielleicht noch fünf, sechs Meter entfernt. Schneller! Sie stürmte hinüber zu dem kleinen Tor, das in den Innenhof führte.
Von dort gab es eine Notausgangstür für das Hauptgebäude der Eerie High – aber sie wusste, dass man die Tür auch als Eingang benutzen konnte, wenn abends der Haupteingang verschlossen war.
Das war ihre einzige Chance. Und eine Sackgasse, wenn die Tür verriegelt war.
»Bleib stehen, verdammt!« Jessies Stimme war kaum noch zu erkennen.
Er hatte noch weiter aufgeholt.
Liv flimmerte es vor den Augen, vor Anstrengung sah sie schon Sterne. Keuchend holte sie Atem.
Plötzlich schien Jessie die Strategie zu ändern. Seine Stimme klang flehend und wurde fast zu einem Schluchzen. »Liv, komm schon. Ich muss mit dir reden. Das hätte ich schon längst tun sollen. Ich kann dir alles erklären.«
Liv blickte zurück. »Mit einem Messer?«
Sie hätte sich nicht die Zeit nehmen sollen zu antworten. Denn Jessie nutzte den Augenblick und war mit
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