Harold - Einzlkind: Harold
Henry mit knapp 200 Pfund Übergewicht und der breitflächig eingedellten Nase eine durchaus ernsthafte Konkurrenz darstellt. Harold überlegt kurz und entscheidet sich spontan für Frank. Ein Bauchgefühl.
Frank und Henry stecken sich synchron eine Zigarette an und pusten den Rauch in Harolds und Melvins Richtung. Harold findet es sehr angenehm. Melvin hustet, als habe er soeben Lungenkrebs bekommen, im Endstadium. Er versucht seine von Geburt an hängenden Schultern in eine aufrechte Position zu lenken, um größer zu wirken, um in der maskulinen Umgebung einen Platz zu finden.
»Entschuldigung, ich möchte Sie nur ungern bei ihren proletarischen Ritualen stören, aber da ich nach ästhetischen Gemeinsamkeiten zwischen dem gemeinen Borkenkäfer und dem, was man euphemistisch Homo sapiens nennt, forsche, ist meine wissenschaftliche Neugier Ihnen gegenüber auf ein kaum zu ertragendes Maß angestiegen. Bitte verstehen Sie das nicht als Beleidigung, Borkenkäfer sind mein Spezialgebiet.«
In Australien, hat Harold gehört, soll das Leben auch sehr schön sein. Fische soll man da fangen können und Häuser gibt es dort und Bäume und Kängurus, und wenn es dunkel wird, sollen die Sterne ganz besonders schön leuchten.
»Frank, ich darf Sie doch Frank nennen, oder?«
Island muss auch toll sein.
»Wie kam es zu Ihren Sozialisationsstörungen und wie genau würden Sie die genetischen Defekte in Ihrer Familie beschreiben? Waren Ihre Eltern vielleicht Bruder und Schwester?«
Marokko erst.
»Können Sie das Wort Plebiszit buchstabieren?«
Frank krempelt die Ärmel seines Dolce & Gabbana-Sweatshirts auf und entblößt zwei komplett tätowierte Unterarme. Viel mit Schlangen, hier und da ein Totenkopf, insgesamt recht farbenfroh, wie Harold findet. Frank knackt zwei seiner Finger zurecht und antwortet mit einer ruhigen, aber für die Statur etwas zu hohen Stimme: »Leck mich am Arsch. Hast du sonst noch Fragen, Junge?«
»Sicher.« Melvin drückt das Einrasthäkchen seines Kugelschreibers. »Sind Sie verheiratet? Wenn ja, schlagen Sie Ihre Frau? Haben Sie noch geschlechtlichen Umgang miteinander, und wenn ja, wie oft? Welche sexuellen Praktiken bevorzugen Sie? Anal, vaginal, Cunnilingus? Wie oft versagen Sie bei der Kopulation? Wann hatten Sie Ihr erstes homosexuelles Erlebnis? Haben Sie Kinder, und wenn ja, verspüren Sie Ihren Kindern gegenüber eine liebevolle Zuneigung, die bisweilen zu weit geht?«
Frank zeigt seine restlichen Zähne, was unter günstigen Lichtverhältnissen pimaldaumen als Lächeln durchgehen kann, wie Harold findet. Frank nimmt einen mächtigen Schluck von seinem Bier, das die Dame mit den zwei sehr großen Brüsten kaum abgestellt hat, und blickt Melvin direkt in die Augen. Harold versucht, sich seine Sorge über Franks Toleranzgrenze nicht anmerken zu lassen, und zählt die Glühbirnen in der Lichterkette, die über der Theke hängt. Die Lichterkette besteht aus Fußbällen in der Größe von Tischtennisbällen. Von den achtundzwanzig Bällen sind noch zwei intakt, die ein warmes Licht über die halbleere Wodkaflasche in dem holzvertäfelten und mit staubigen Spiegeln hinterlegten Regal verströmen.
»Jetzt pass mal gut auf, Junge ...«
Frank packt Melvins Hemdkragen, zieht ihn über den halben Tisch und lässt zwischen beiden Nasen kaum mehr als eine Handbreit. Seine Augen strahlen die Vernichtungskraft einer russischen Panzerdivision aus. Ohne Option auf Überlebende. Es hat den Anschein, als habe Melvin Franks Toleranzgrenze schneller als erwartet überschritten, als fehle jetzt nur noch ein Streichholz, um wie jede vernünftige Tragödie zu beginnen.
»Würden Sie mich bitte loslassen?«
»Ach, und wenn nicht?«
Es könnten aber auch 29 Glühbirnen sein. Harold zählt sicherheitshalber noch mal nach.
»Dann wäre meine Aufsichtsperson gezwungen, nähere Bekanntschaft mit Ihnen zu machen, um es etwas blumig zu formulieren.«
Welche Aufsichtsperson?
»Nur zu.«
»Kann es sein, dass Sie mich nicht richtig verstanden haben? Mit Kontaktaufnahme meine ich nicht den Austausch freundlicher Floskeln, sondern physische Aggressivität, die nachfolgend eine mehrjährige medizinische Behandlung und Nachsorge erfordert.«
»Nur zu.«
Welche Aufsichtsperson?
»Sie sind sich also der Konsequenzen bewusst?«
»Ja.«
Welche Aufsichtsperson?
»Harold, könnten Sie bitte diesem Individuum in meinem Namen körperlichen Schaden zufügen. Ich bin noch zu klein dazu. Das Nasenbein zertrümmern
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