Harold - Einzlkind: Harold
atomaren Erstschlag irgendeines beliebigen Schurkenstaates den Vorzug geben. Morgen, da wird alles anders laufen, das Haus wird gar nicht erst verlassen, die eigenen vier Wände sind Unterhaltung genug, und wenn sich Melvin langweilen sollte, dann wird die Brettspielsammlung aus dem Keller geholt und abgestaubt. Dame und Mühle müssten noch komplett sein, sie wurden ja nur einmal benutzt, damals, als Mrs. Cardigan drei Wochen lang an einem Bandscheibenvorfall laborierte und rund um die Uhr nachbarschaftliche Zerstreuung wünschte. Er wird Melvin seine Aufmerksamkeit schenken, er wird ihm zuhören, egal wie unwegsam das Gesprochene auch sein mag, er wird vielleicht sogar einen Kuchen backen, einen Schokoladen-Streusel-Kuchen mit einer Himbeer-Glasur und kleinen Mandelstücken, aber mehr, mehr wird er nicht tun. Außerdem muss der Rhododendron gegossen werden und in der Wäscheschublade finden sich nur noch vier Paar Socken und die Farbe Beige ist ganz aus. Vielleicht aber gibt es noch eine andere Möglichkeit, um Melvin darauf hinzuweisen, dass er, Harold, nicht die Probleme des Universums lösen kann und auch nicht dafür geschaffen wurde, einem Heranwachsenden das Leben zu vertreiben, das ihm selbst jeden Tag ein unerklärbares Mysterium ist, in das er hineingeworfen wurde, ungefragt und ohne Rückfahrkarte, die es doch sonst für alles gibt, selbst am Wochenende.
Samstag
12
Die Tür ist nur angelehnt. Melvin drückt sie vorsichtig auf. Er hört zum ersten Mal, dass sie nicht geölt ist. Er geht ins Wohnzimmer. Kein Kakao. Kein Harold. Das Radio läuft. Nick Cave mit The Mercy Seat . Die Musik kommt aus der Küche. Melvin versucht leise zu sein, warum, lässt sich nicht genau erklären. Die Küche sieht ordentlich und sauber aus, alles scheint an seinem Platz zu stehen oder zu liegen, der Eierkocher neben der Kaffeemaschine, der Brotkasten neben dem Messerbesteck. Ein Messer fehlt, sonst ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Melvin geht zurück ins Wohnzimmer. Ein Wasserhahn tropft. Das Geräusch kommt aus dem Bad. Melvin hat Psycho viermal gesehen, es ist einer seiner Lieblingsfilme.
Die Badezimmertür steht zur Hälfte auf, ein grelles Neonlicht blendet die hellgelben Kacheln. Auf dem Boden breitet sich eine Blutlache kreisförmig aus. Es ist nicht der Wasserhahn, der tropft, es ist das Handgelenk, das über dem Wannenrand baumelt. Hinter der Tür liegt der dazugehörige Körper kinntief in der Wanne, die blutrotes Wasser führt. Auf der Oberfläche äugen restschäumend kleine Bläschen hervor und auf der Ablage liegt das fehlende Brotmesser.
»Ach, hier sind Sie.« Melvin versucht, nicht in die Blutlache reinzutreten und setzt sich auf den Klodeckel. Er nimmt seinen Schulranzen ab, öffnet ihn und holt zwei Blätter hervor.
»Mrs. Cardigan hat mir schon von Ihrem Hobby erzählt. Ich bin froh, dass Sie keine anfeuchtbaren Postwertzeichen in dunkelblauen Kunstleder-Mappen horten. Individualität ist die Muse der Verlorenen. Gleichwohl es ja einen Harold gibt, der das gleiche Hobby hat. Aber der ist Amerikaner und eine Filmfigur. Sie sind ja echt.«
Harold kennt keinen Amerikaner mit dem Namen Harold. Auch nicht als Filmfigur. Harold kennt nur Filme von vor 1970. Und wenn er schon Ähnlichkeit mit einem Schauspieler haben sollte, dann doch wohl mit Rock Hudson in Der Mann, der zweimal lebte .
»Ich muss in zwei Wochen ein Referat halten, in Politik. Mrs. Bradford, meine Klassenlehrerin, möchte, dass ich über die Demokratie abhandle. Ich sollte mir darüber Gedanken machen. Das habe ich gemacht. Und Sie sind der Erste, dem die kleine Eloge ich vorzusprechen gedenke. Vorpremiere sozusagen.«
Melvin räuspert sich.
»Liebe Mitschülerinnen, liebe Mitschüler, sehr verehrte Mrs. Bradford! Zunächst einmal möchte ich mich bedanken, dass ich heute hier vor euch und Ihnen stehen darf und mir die ehrenvolle Aufgabe übertragen wurde, das Monument der europäischen Verfassung darzulegen, es näherzubringen und überdies hier und da, in aller Bescheidenheit, ein paar kritische Kommentare anzufügen. Das haben zwar schon weit bedeutendere Persönlichkeiten als meine Wenigkeit zu Protokoll gegeben, ich denke da an Dewey, Chomsky, Baudrillard oder Laclau, um nur einige der abendländlichen Protagonisten zu nennen, doch will mich dieser Reichtum nicht scheuen, nur motivieren. Ich spreche natürlich, und ihr werdet es schon vermutet haben, von der Demokratie. Wie wohl allseits bekannt sein dürfte, bedeutet das
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