Harold - Einzlkind: Harold
halte ich für angemessen. Alternativ können Sie dem Kombattanten auch zwei Zähne ausschlagen, links unten, die sehen noch halbwegs brauchbar aus.«
Harold ist absolut sicher, dass dies ein guter Zeitpunkt wäre, den ersten Herzinfarkt seines Lebens zu bekommen.
11
Die beiden Welpen haben sich im Spiel ineinander geschlungen. Sie bilden eine Einheit auf der ausgeblichenen grünen Wiese, die von Löwenzahn und Maiglöckchen, Weißklee und Vergissmeinnicht bevölkert wird. Die Sonnenstrahlen sind kaum noch zu erkennen, das Himmelblau ein müdes Grau mit schummrigen Schäfchenwolken, die sich in den feinen Nähten auflösen und bald gänzlich verschwinden werden. Nur das kleine Jagdhorn am oberen rechten Rand wehrt sich tapfer gegen Weichspüler und Kochwäsche. Im Spiegel gegenüber betrachtet Harold seinen Pyjama, den er von Mrs. Cardigans verstorbenen Bruder geerbt hat, ein passionierter Jäger, der vor fünf Jahren ein prächtiges Wildschwein in der linken Flanke erwischte und leider eine Ladehemmung hatte, just in dem Moment, als das Wildschwein ziemlich erbost auf ihn zu rannte und seine Hauer in eine äußerst schmerzempfindliche Stelle stieß. Der Blutverlust konnte nicht mehr kompensiert werden, da man Mrs. Cardigans Bruder erst vier Stunden später fand, in einem Zustand, der selbst dem Notarzt noch jahrelange Albträume bescherte.
Harold sitzt auf dem Bett, das bei jeder Bewegung in höchsten Tönen quietscht, er hat noch seine Hausschuhe an, die seine schmerzenden Füße mit wohligem Filz umgarnen. Die physische Belastung des Davonlaufens fordert ihren Tribut mit Wucherzinsen ein und Harold weiß nicht, ob er jemals wieder gehen kann. Sicher, es hätte alles auch noch sehr viel schlimmer kommen können. Wenn die Dame mit den zwei sehr großen Brüsten ihnen nicht einen zwanzigsekündigen Vorsprung verschafft hätte und wenn Frank und Henry zu Fuß nicht eine so klägliche Figur abgegeben hätten, dann wäre die Angelegenheit mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem anderen Ende gelangt. So waren es nur die Füße, die Schaden davontrugen, da sie selbst dann noch rannten, als Frank und Henry drei Straßenblöcke entfernt schwer gebeugt die Hände in die Hüften legten und in keuchenden Atemzügen alle Schimpfwörter und Drohungen, die ihnen auf die Schnelle einfielen, hinterherschickten. Harold versteht nicht, warum Melvin von einem gelungenen Tag sprach, nachdem er seinen Keuchanfall überwunden hatte, warum er bei der Verabschiedung sagte, er freue sich auf morgen, warum das Leben ihm eine derartige Prüfung abverlangt und warum die Zeugen Jehovas auf der Paxton Road immer so krank aussehen. Vielleicht ist aber auch alles nur ein unbehaglicher Traum, und wenn er sich jetzt ins Bett legt und morgen wieder aufwacht, dann ist vielleicht alles wieder gut, dann ist er, Harold, wieder der Fleischereifachverkäufer und Carol aus der Käseabteilung seine liebenswerte Kollegin. Doch wenn Harold in der Vergangenheit ähnliche Hoffnungen gehegt hatte, entpuppten sie sich am nächsten Morgen als trügerische Wunschvorstellungen, die noch nicht einmal im Traum Einlass fanden. Als Jerry O’Connor, ein berühmt berüchtigter Rüpel vor dem irischen Herrn, ihm im Sportunterricht die Hose herunterzog und alle, auch Sophie mit der Zahnklammer, sehen konnten, dass er mit fünfzehn Jahren immer noch keine Schambehaarung aufweisen konnte, da war die Tat am nächsten Morgen keineswegs ungeschehen und der ganze Kummer sehr wohl noch lebendig. Auch die hochnotpeinlichen Verkupplungsversuche seiner Mutter hatten sich nie wegschlafen lassen, nur die Erinnerungen daran verblassen mit der Zeit und verlaufen sich in den dunklen Gassen und Winkeln des Unterbewusstseins. Die Chance, Melvin nur als Eskapade seiner Phantasie zu vergessen, ist demnach kaum größer, als von einer Fruchtfliege erschlagen zu werden.
Die Frage aber ist vielmehr, wie konnte es so weit kommen, wie ist es möglich, dass er, Harold, ein erwachsener Mann von 49 Jahren, sich von einem Schuljungen in solch verwegene Abenteuer hat geleiten lassen. Er hat nie ein besonderes Faible für Menschen gehabt und soweit er sich erinnern kann, auch nicht für Kinder. Und es sieht bisher keineswegs danach aus, als würde Melvin etwas daran ändern können, ganz im Gegenteil. Auch der Wunsch, eines Tages Erziehungsberechtigter zu werden, ist selbst in seinen kühnsten Phantasien kaum mehr als eine schreckhafte Randnotiz, und wenn er die Wahl hätte, würde er einem
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