Harold - Einzlkind: Harold
Denn dass wir die Krönung der Schöpfung sein sollen, ist ja nur unsere eigene Wunsch- beziehungsweise Wahnvorstellung, die wir dem lieben Gott anheimstellen, damit wir abends wenigstens einschlafen können, um unsere bedauerliche Existenz für einige Stunden vergessen zu können. Die Hybris unserer geistigen und geistlichen Vordenker wird in der kleinbürgerlichen Endstation des Kapitalismus gleich einem Urknall im absoluten Nichts verglühen. Wir Menschen werden eines glücklichen Tages die Neandertaler sein, auf die eine Spezies zurückblicken wird, die der unseren unendlich überlegen sein wird. Man wird uns als Fauxpas der Evolution bezeichnen, als die erste Gattung, der in Ansätzen so etwas wie Intelligenz mitgegeben wurde, auf der untersten nur denkbaren Stufe. Man wird uns mit Belustigung, Verwunderung und Nachsicht betrachten und unser tragisches Dasein in der Geschichte unter dem Begriff Kollateralschaden verbuchen. Vielen Dank für eure und Ihre Aufmerksamkeit. Und, Harold, was meinen Sie?«
Harold ist grundsätzlich noch tot.
»Ich sollte noch mal am Mittelteil arbeiten. Manchmal wird mir vorgeworfen, ich sei nicht emotional genug und lasse Gefühle vermissen. Vielleicht sollte ich noch so etwas wie Den Weihnachtsmann aber gibt es wirklich schreiben. So als romantische Komponente.« Melvin schreibt etwas auf die Rückseite seines Papiers. »Ich gehe mal in die Küche und mache uns einen Kakao. Wir haben heute noch viel vor.« Harold überhört die Drohung, er kann sie gar nicht hören, er ist ja tot. »Seien Sie so lieb und ziehen bitte etwas Legeres an.« Melvin stopft seine Unterlagen in den Schulranzen und geht hinaus, wobei er gegen das Waschbecken sowie links und rechts gegen den Türrahmen stößt und mittelschwere Flüche von sich gibt. Ein Scheppern und Klirren tönt aus der Küche, und als schließlich das Radio in orchestraler Lautstärke erklingt, hält Harold es für angebracht, das Leben neu zu erkunden, gleichwohl ihm schon die Vorstellung daran Übermenschliches abverlangt. Etwas Legeres?
Melvin mustert Harold eindringlich. Er nippt an dem Kakao, der dampfend seine Brille beschlägt, und überlegt, wie er sich so missverständlich habe ausdrücken können. Sicher, léger ist ein Fremdwort, es kommt aus dem Französischen und ist mit dem lateinischen vulgaris lose verwandt. Aber wie konnte es passieren, dass der geneigte Betrachter derart brachial in seinem ästhetischen Empfinden geschmäht wird? Warum gibt es Orte, in denen Zeit und Raum keine Rolle spielen und wieso ist das Sein letzten Endes aller Erkenntnis enthoben? Harold hat einen hellblau-grau-violetten Anzug gewählt, der ihm vor fünfzehn Jahren sehr gut gepasst haben muss, dazu ein cremefarbenes Hemd und einen gelben Pullunder, auf den einst kleine mintgrüne Elche gestickt wurden, deren handwerkliche Ausarbeitung auf Kinderarbeit schließen lässt. Waren die Winke mit dem Zaunpfahl dermaßen dehnbar? Hatte er vielleicht gesagt: Ziehen Sie bitte etwas aus den Siebzigern an, in dem Sie aussehen wie ein homosexueller Gebrauchtwagenhändler aus Bristol, der nach einer schweren Salmonellenvergiftung nur noch Rüben isst und sonntags die Kirchenorgel bedient, bevor er die jungen Messdiener in der Kapelle vergewaltigt? Nein, hatte er nicht. Aber je länger Melvin die modische Retrospektive betrachtet, desto mehr reift in ihm die Überzeugung, dass Harold im Grunde die perfekte Wahl getroffen hat, dass er instinktiv wusste, welche wunderbaren Erfahrungen sie heute sammeln würden und warum die Überzeichnung ein bewährtes Mittel für die Zurschaustellung der endlichen Lächerlichkeit allen Daseins ist. Melvin schlägt die Füße gegeneinander und über Kreuz, wie er es immer macht, wenn er zufrieden ist, wenn sich der Welten Gang als der Seine erweist. Harold indes ertrinkt die Sahne im Kakao durch unablässiges Rühren mit dem Löffel, er nimmt zwei kräftige Schlucke und spürt die Wärme, wie gut sie tut, wie sehr sie die Erinnerung an das Behütete wachruft, an ein Damals mit grünen Wiesen und Onkeln und Tanten, die ihm Bonbons mitbrachten und immer sagten, wie groß er schon wieder geworden sei. Der süßliche Geschmack verweilt in seinem Gaumen, in dem noch etwas anderes, etwas Ungewöhnliches klebt, in Höhe des linken Backenzahns, etwas, das dort eigentlich nicht hingehört. Es fühlt sich wie ein kleines Stück Papier an, er schiebt es mit der Zunge hin und her, es scheint sich aufzulösen und bald schon wird es
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