Harold - Einzlkind: Harold
Herzinfarkt. Das Einzige, woran er sich erinnern kann, ist der Pfeifengeruch, der ständig im Haus für schlechte Luft und bei Harold für brechreizende Übelkeit sorgte.
Ansonsten besitzt er nur ein paar alte Reitstiefel, nicht mehr als ein Andenken, wie eine Postkarte, nur sperriger. Aber wurde er durch diesen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen? Nein. Verlust ist das einzig Beständige im Leben, mal abgesehen von Rückenschmerzen. Und er, Harold, sieht keinen vernünftigen Grund, warum er diesem jungen Menschen etwas anderes beibringen sollte. Und eigentlich sieht er nicht ein, warum er ihm überhaupt etwas beibringen sollte. Er ist nicht Mahatma Gandhi. Die Reise endet hier. Definitiv.
Harold öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Er geht um das Bett herum in Richtung der großen Fenster. Er zieht die schweren Vorhänge auf, öffnet eines der Fenster und lässt die Dunkelheit sein Gesicht umschmeicheln. Mit dem rechten Bein steigt er auf den Heizkörper, er berührt die abblätternden Fensterrahmen, die von kleinen Insekten bevölkert werden, er hält sich fest, nimmt Schwung und zieht sich mit einem kurzen Ruck ganz nach oben. Melvin versteht nicht genau, was Harold da macht. Es sieht so aus, als wolle er aus dem Fenster springen. Harold atmet die kalte Herbstluft ein, als würde er ein letztes Mal ihren herben Duft empfangen, von Ferne läutet eine Kirchenglocke, Blätter rauschen ihrem Ende entgegen und der Mond scheint, als sei er ein wenig beleidigt. Noch einmal innehalten. Hören. Sehen. Riechen. Das ganze Leben spult sich innerhalb einer Sekunde ab, mit Längen im Zwischenteil, ein Schritt nur, ein letztes Geleit und es ist vollbracht.
Er springt.
Melvin macht das Licht aus, dreht sich um und schläft über der Frage ein, ob Harold den Sturz aus dem Erdgeschoss überlebt hat.
Dienstag
27
Kurz vor Leicester stecken sie fest. Sie haben es nicht mehr geschafft. Die Straße wurde vor ihren Augen komplett gesperrt. Hinter ihnen staut sich der Verkehr auf einer Länge von mehreren tausend Kilometern. Und eine ganze Kohorte Polizisten wacht über die Lawine, dass auch keiner auf schiefe Ideen kommt.
Melvin spricht nicht. Schon seit dem Frühstück nicht mehr. Niemand hat gesprochen. Beim Frühstück. In diesem kalten Café. Nicht das in die Leere blickende Paar am Nachbartisch, noch der nervöse Herr am Eingang, der jemanden oder etwas erwartet hat, das aber nicht kam. Die feilgebotene Nahrung konnte der Stimmung keinen Schaden zufügen, das Erstaunen war einfach zu groß. Appetitlich zeigten sich nur die kleinen gebratenen Speckkrusten, die eventuell von Schweinen stammten, wenngleich Melvin nach wie vor unschlüssig ist, aus welcher Jahrhundertwende sie Zeugnis einer globalen Epidemie ablegen. Harold trank Kaffee, von dem er nicht wusste, dass es einer war. Spontan hätte er Kartoffelpudding gesagt. Aber man fragte ihn nicht. Niemand fragte etwas. Man nahm wahr und versuchte zu verstehen, wie alles so weit hatte kommen können und warum das wenige Glück auf Erden sich stets zwei Blöcke entfernt aufhält. Für Harold ist das kein sensationeller Umstand.
Und nun warten. Warten, dass sich der Stau wieder auflöst, dass die Reise weitergehen kann. Der Grund des Staus ist keine Massenkarambolage oder ein waghalsiger Terroranschlag islamischer Fundamentalisten. Für beide Szenarien würde Melvin klagendes Verständnis an den Tag legen und, wenn möglich, den einen oder anderen Toten aus nächster Distanz begutachten. Der anatomischen Studien wegen. Der Grund aber für die ungewollte Rast ist ein Marathonlauf. Hunderte wenn nicht Tausende verschwitzte, dehydrierte, rotköpfige, katatonische und dem Tode ins Auge blickende Wesen laufen irgendwohin. Viele stolpern auch nur vorwärts, und stünde Melvin dem Humanismus nahe oder zumindest nicht feindselig gegenüber, würde er Mitleid haben. Aber wie kann man für derlei Selbstjustiz Verständnis hegen? Warum reicht hier und da ein bisschen flagellieren nicht mehr aus? Ist die Krönung der Schöpfung nicht schon beschämend genug? Und warum kann sie nicht wenigstens gut riechen? Harold und Melvin können nichts weiter tun, als warten und die traurige Szene mit starren Augen verfolgen. Sie sitzen da wie Mürbeteig. Und nie wünschte sich Melvin mehr, sein Alter ego sei Josef Stalin. Da wäre so eine Veranstaltung schnell dahingemetzelt.
Harold hat weit mehr Verständnis für die Läufer. Für ihren Mut, ihr unbändiges Verlangen, die eigenen Grenzen zu
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