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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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etwas anderer Meinung. »Vielleicht hat es Ihnen noch niemand gesagt, aber: Dadaismus ist tot. Aus der Schweiz kommen nur noch Taschenmesser.«
    »Dadaismus?«
    »Vielleicht sollten Sie es mit Belletristik versuchen.«
    »Belletristik?«
    Melvin grinst, als versuche er einem Zweijährigen zu erklären, dass es keine gute Idee wäre, eine Tube Sekundenkleber zu essen, auch nicht als Nachtisch. »Einen Roman. Nennen Sie ihn: Das klandestine Plusquamperfekt. Besser noch, eine Autobiografie: Jonny Danger – Das Proletariat schlägt zurück.«
    »Ich habe auch noch etwas mit Rosen und Sonnenuntergang. Ist aber noch nicht fertig.«
    »Dann sollten wir damit warten, bis es fertig ist. Mal zu einem anderen Thema. Mit wie vielen Frauen hatten Sie bisher Geschlechtsverkehr?«
    Jonny Danger wird rot wie ein Bus. Er nippt an seinem Tee und starrt Löcher in den Tisch. Melvin kann sich schon vorstellen, dass es in diesem Pfuhl der Sünde nicht gerade wenige waren.
    »Nun ja«, sagt Jonny Danger, »ich bin noch Jungfrau.« Melvin sieht die Abrissbirne kommen, kann ihr aber nicht mehr ausweichen. Wie kann das möglich sein? Der Mann ist 37 Jahre alt, da muss sich doch irgendetwas ergeben haben. Natürlich nicht umsonst, bei dem Aussehen. Aber etwas Gutes hat die Unbeflecktheit auch: Jonny Danger kann unmöglich Melvins Vater sein, eine Sorge weniger, immerhin. Melvin wird müde, er schaut auf seine Albert-Camus-Armbanduhr, die er von seiner Mutter zum achten Geburtstag geschenkt bekam, und gähnt.
    »Wie die Zeit vergeht. Kennen Sie zufällig ein günstiges Hotel in der Nähe?«
    Jonny Danger überlegt. »Ihr könnt bei Paris übernachten, die liegt im Krankenhaus, Eierstockentzündung.«
    Bei Paris?
    26
    Eigentlich hätte Melvin gerne im The Grand übernachtet. Im Internet sah es toll aus. Ein wenig in die Jahre gekommen, aber immer noch das erste Haus am Platz. Letztes Zeugnis legt es ab, ein Hauch der Erinnerung an die einst mondäne Aura Brightons, als Könige hier noch Seeluft schnupperten und der schlechte Geschmack noch in der Gosse kroch. Leider bietet ihr Budget keinen Raum für extravagante Wünsche, um fürstlich gebettet zu tüdeliger Pianomusik sanft einzuschlummern. An dessen statt sind nachbarschaftliche Bettfedern zu hören, deren letzte Ölung schon eine Weile her sein muss, und Paul Anka schmachtet in seismografisch messbarer Lautstärke dem Höhepunkt entgegen. Ansonsten ist es aber gar nicht so schlimm bei Paris. Alles ist sauber und alles ist rosé. Das Bett, die Wände, der Teppich, alles. Auch der leuchtende Eifelturm und die Utensilien für fantasievolle Paarungsrituale, die auf einer viktorianischen Kommode thronen.
    Melvin hat sogar kurz mit der verrückten Idee geliebäugelt, den Morgenmantel mit den puffigen Ärmeln und dem flauschigen Revers überzuziehen, sich dann aber doch für seinen eigenen Pyjama entschieden, auf dem die Physik-Nobelpreisträger der letzten 50 Jahre abgebildet sind. Ein Geschenk des Reifenhändlers, mit dem Melvins Ma mal etwas hatte, als sie verzweifelt und völlig orientierungslos nach Nähe suchte. Der Klempner war auch nicht besser, und den Erdkundelehrer verzeiht Melvin ihr bis heute nicht.
    Sein noch junges Leben ist schon voller Narben und bedarf ein wenig der Ruhe, um neue Kraft zu tanken. Wenn Harold endlich aus dem Bad kommt, kann Melvin das Licht ausmachen und diesen Tag so schnell wie möglich wieder vergessen. Vielleicht haben sie ja bei Nummer drei mehr Glück.
    Harold schaut in den Spiegel. Reste von Zahnpasta nisten in den Mundwinkeln, die Augen höhlen in tiefster Kümmernis und die Wangen hängen träge wie Waschlappen herab. So also sieht jemand aus, der die Queen überfährt. Ein Monstrum. Sein Magen grummelt, er hat Hunger, es gab kein Abendbrot, das ist nicht gut. Abendbrot ist die wichtigste Mahlzeit des ganzen Tages nach dem Frühstück. Was würde er jetzt für ein Gurken-Sandwich und ein warmes Glas Milch geben. Sein Seelenheil? Warum nicht. Viel gibt es ja nicht mehr zu verlieren, die Hausratversicherung, den Kristallleuchter, das elektronische Blutdruckmessgerät, das Silberbesteck, und das war es im Grunde schon, der Rest müsste entsorgt werden. Unnötiger Ballast, loslassen, trennen, nicht mehr umdrehen, beenden. Wie auch diese Beziehung. Es ist ja nicht so, dass er Melvins Suche nach den Ahnen seines Erbguts nicht verstehen würde. Auch Harold hätte gerne mehr von seinem Vater gehabt, den er im Alter von vier Jahren das letzte Mal sah.

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