Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
Vom Netzwerk:
selbstbräunenden Flecken auf den Beinen reichen bis zu den Füßen, die in überdimensionierten Tiger-Pantoffeln stecken. Auch die Zigarette im linken Mundwinkel zeugt von einer schöpferischen Eleganz, wie sie sonst nur den Impressionisten alter Schule gelang, wenn sie genügend getrunken hatten. Harold fühlt sich erotisch berührt.
    »Die beiden wollen zu Jerry?«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Sehen gar nicht so aus.«
    »Nein.«
    »Haben Sie um Geld gebettelt?«
    »Noch nicht.«
    »Gib ihnen nichts.«
    Die Frau verschwindet wieder hinter der halboffenen Tür. Harold ist enttäuscht, doch das Bildnis der fleischlichen Versuchung dürfte noch über viele Jahre in gewissen Situationen eine Quelle der Inspiration sein.
    »War’s das?«, fragt der Mann, der sehr krank sein muss, wie Harold findet, da er sich unablässig im Schritt kratzt.
    »Ja, vielen Dank, wir möchten Sie nur ungern bei ...«
    Die Tür knallt zu.
    Melvin fällt ein Gebirge vom Herzen. Dieses Etwas und seine Mutter? Das Urgestein der Erbsünde Mann und das elfengleiche Bildnis der Jungfrau Maria? Hätte er, Melvin, das Resultat sein können? Wäre das genetisch überhaupt möglich? Fragen, die sich nicht mehr stellen, auf dem Weg durch das Treppenhaus, zwei Etagen tiefer, wo der richtige Jeremiah Newsom lebt, zu Jerry, wie er wohl allerorten genannt wird.
    Die Klingel hat eine ungewöhnliche Melodie, sie passt nicht zu diesem Ort, nicht in diese Welt, sie ist der Frühling aus Vivaldis Vier Jahreszeiten . Die Tür geht auf. Melvin erschrickt. Harold auch. Jerry sieht anders aus als erwartet. Ganz anders.
    »Hallihallo.«
    29
    Harold kann sich nicht erinnern, jemals etwas Vergleichbares gesehen zu haben. Jerry hat vorgeschlagen, hierhin zu gehen. An diesen Ort. Um zu frühstücken. Um drei Uhr nachmittags. In einem Etablissement, das sich Café nennt, genauer gesagt Café Tutu. Und das genauso aussieht, wie es heißt. Das plüschige Ambiente ignoriert die Zierde der Bescheidenheit und lädt auf scharlachroten Sesseln in der Größe von interstellaren Raumschiffen zum Verweilen ein. Kleine, zottelige Tischlämpchen verströmen ein diffuses Licht, in dem Rauchschwaden flüchtige Wolkenformationen bilden. Komische Dinge gibt es zu entdecken, von Salzstreuern in Form des schiefen Turms von Pisa, bis hin zu Kerzenhaltern, die wie aus Spaghetti geformte Obelisken aussehen. In Öl ertrunkene Porträts hängen an grob verputzten Wänden. Menschen sind zu erkennen. Bei näherer Betrachtung nackt. Mal mehr, mal weniger direkt.
    Irritierender als das Ambiente ist nur Jerry selbst. Bisher ist Harold die Homosexualität nur aus dem Fernseher oder von der gegenüberliegenden Straßenseite bekannt. Selten wagt er einen längeren Blick, doch mehr als ein gedankliches Schulterzucken kommt ihm nie in den Sinn. Meistens muss er nur an Mrs. Cardigan denken, die in solchen Fällen immer sagt: Wenn’s schön macht. Die leibhaftige Konfrontation aber mit einem Protagonisten homoerotischer Orientierung ist eine völlig neue Erfahrung von empfindsamer Eindrücklichkeit. Zumal Jerry gänzlich sorglos seine feminine Ader zur Schau stellt und die fatale Dominanz des Purpurnen seiner Aura etwas Unerschütterliches verleiht. Nichts an ihm scheint von der Stange zu sein, weder seine selbst gehäkelte Strickjacke noch das kirschblütenfarbene T-Shirt mit der kindlich geschwungenen Aufschrift Emanze und schon gar nicht das mit kleinen Pailletten verzierte italienische Schuhwerk, das mit jedem Schritt Verdi’sche Arien klimpert. Am allerwenigsten aber seine Stimme, die zwischen Barbara Streisand und Kermit der Frosch changiert. Und vielleicht ist dies auch der Grund, warum Melvin nach dem ersten Schreck der Begrüßung erzählt hat, er sei Autor für die Schülerzeitung und schreibe an einer Reportage über homo- und transsexuelle Subkulturen. Harold, so hat sich herausgestellt, ist Melvins Englischlehrer Mr. Wintersleep, eine Koryphäe auf dem Gebiet der südpersischen Literatur der Jahre 41 bis 57 nach Christi Geburt.
    Jerry hat ohne erkennbares Zögern eingewilligt, der Aufklärung wolle er gerne zu Diensten sein, hat er gesagt, den Vorurteilen noch ein wenig mehr Raum geben und überhaupt sei sein Leben filmreif, Drama, Tragödie, Heldenepos, alles dabei. Geschichten könne er erzählen, die selbst Hollywood zu unglaubwürdig wären, dabei sei alles wahr und getreu der Ereignisse, die er nicht auszuschmücken gedenke, ganz im Gegenteil, hier und da müsse auch

Weitere Kostenlose Bücher