Harold - Einzlkind: Harold
scheint. Auf einem burlesken Messingschild steht: Holyflower Hotel .
»Sie wohnen in einem Bordell?«, fragt Melvin, der Mühe hat, Schritt zu halten.
»In einem Haus der Freude«, sagt Jonny Danger, fast ein wenig beleidigt. »Ich kann hier umsonst wohnen, dafür bin ich so etwas wie der Hausmeister.«
»Sie wechseln Birnen?«
»Auch.«
Am Eingang angekommen steht eine rauchende Dame am Geländer, die sehr arm sein muss, wie Harold findet. Außer ihrer Unterwäsche hat sie anscheinend nichts zum Anziehen, und das zu dieser Jahreszeit, sie wird sich ganz bestimmt erkälten.
»Na Jonny, wieder Überstunden gemacht?«, fragt die Dame, die aus Rauchschwaden wunderschöne Kringel zaubert. Jonny Danger nickt verstohlen und schenkt ihr ein schüchternes Lächeln. Die Dame drückt ihre Zigarette mit graziler Fußarbeit aus und lenkt ihr neugieriges Wesen auf Melvin und Harold. »Was seid ihr denn für ein niedliches Pärchen? Habt ihr euch verlaufen, oder soll Rosie euch Nachhilfe in Französisch geben und danach den Hintern versohlen?«
Derweil Harold noch überlegt, warum Rosie ihm den Hintern versohlen möchte, zieht Melvin ihn hinter Jonny Danger in den Hausflur hinein. Er ist größer als erwartet. Es riecht nach chemischen Keulen und billigem Parfum. Sauber ist es, der Boden frisch gebohnert, die himmelblauen Butzengläser auf Hochglanz poliert. Die Ruhe ist befremdlich, sie passt nicht recht, weiter oben troubadourt Paul Anka Süßstoff in die Atmosphäre, ansonsten Stille, als würde man ein Pfarrhaus betreten. Die knarzige Holztreppe wirkt müde, nahezu aufopfernd, aber keineswegs instabil. Auf der ersten Etage stoppt Jonny Danger und fingert an seinem Hemd herum. Er holt einen Schlüssel hervor, der an einem Band um seinen Hals hängt. Er muss sich bücken, um das Schloss zu erreichen. Die Tür knirscht auf.
Jonny Danger ist nicht auf Besuch eingestellt. Der Weg hinein ist durch Berge von Altpapier und Armeen aus Leergut vortrefflich gesichert und nur mit äußerster Konzentration zu meistern. Die Wohnung ist eine größere Abstellkammer mit Kochnische. Eine Matratze, ein kleiner Tisch mit drei Stühlen und ein Regal voller Mumpitz sorgen für erschreckende Gemütlichkeit. Mit einem flüchtigen Fingerwink bedeutet Jonny Danger seinen Gästen, sich wie zuhause zu fühlen. Er selbst geht zur Kochnische, keine zwei Meter entfernt. Das Spülmittel muss schon seit mehreren Wochen leer sein, das Geschirr stapelt sich in alpine Höhen und würde auch als Fototapete eine prima Figur abgeben. Melvin und Harold nehmen Platz und schauen zu, wie ihr Gastgeber Tee macht, wie er scheppernd ein Tablett, eine Kanne, einen Löffel und drei Tassen sucht, wie er gegen halboffene Schranktüren tritt, wie er sich am Hintern kratzt, wie er das Tablett auf den Tisch stellt und den kaum gezogenen Tee in die Tassen füllt. Er riecht gar nicht schlecht, aber Harold würde es im Traum nicht einfallen, die Tasse auch nur zu berühren.
»Und, Mr. Danger«, versucht Melvin die Unterhaltung sanft einzuleiten, bevor er die entscheidende Frage stellt, »wie sehen denn so Ihre Pläne für die Zukunft aus?«
»Darüber habe ich nachgedacht, als ich vor zwei Monaten knapp gegen Henry The Killerduck Murphy verloren habe«, sagt Jonny Danger und schüttet zwei Esslöffel Rohrzucker in seinen Tee.
»Und sind zu welchem Ergebnis gekommen?«
»Dass es so nicht weitergehen kann. Ich baue mir ein zweites Standbein auf, für nach die Karriere.«
»Welche Karriere?«
»Als Boxer.«
»Ach ja. Und wie sieht dieses zweite Standbein aus?«
»Ich bin Dichter.«
»Sie sind Autor?«
»Nein, Dichter.«
»Sie schreiben.«
»Ja.«
»Was denn so?«
»Gedichte.«
»Aha. Wer sind denn Ihre Vorbilder?«
»Muhammad Ali und Lennox Lewis.«
»Literarisch.«
»Literarisch?«
»Ja, als Literat lesen Sie doch auch, oder?«
»Nun ja, eigentlich nicht so gerne. Ich bin ja Dichter. So wie Lord Byron. Da habe ich auch ein Buch von. Irgendwo. Ich schreibe aber anders. Mal hören?«
»Warum nicht.«
Jonny Danger bückt sich und wühlt in einem Stapel gefalteter Milchkartons. Er zieht das gesuchte Exemplar vorsichtig heraus und hält es in Händen, als sei es ein Picasso. Er räuspert sich.
»›Kichererbsen weinen nicht‹. Von Jonny Danger. Bereit?«
»Absolut.«
Jonny Danger räuspert sich. Zweimal.
»Erbsenlaub, o Erbsenlaub,
ist taub.
Taub, taub, taub,
ist Erbsenlaub.«
Harold würde es sofort kaufen. Auch weil es so kurz ist. Melvin ist da
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