Harold - Einzlkind: Harold
blickdichten Schutz vor allzu neugierigen Blicken. Musik ist zu hören, mit lauten Bässen, Pop-Musik aus den Achtzigern, beherztes Mitsingen in mutiger Tonlage auch.
Melvin klingelt.
Ein schlankes, mindestens zwei Meter großes Wesen mit einer neongrünen Afroperücke öffnet die Tür und erstarrt jäh in seinem virtuosen Luftgitarrenspiel.
»Wer seid ihr denn?« Während Harold noch überlegt, wer er ist, sagt das Wesen: »Die Pädophilen-Party ist zwei Blöcke weiter.« Die Tür knallt zu.
Melvin klingelt erneut.
Die Tür geht auf.
»Ach herrje, mein Fehler. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, mich so missverständlich ausgedrückt zu haben. Also noch einmal mit allem gebührenden Respekt: Verpisst euch!« Doch noch bevor das Tür-auf-Tür-zu-Spiel richtig in Fahrt kommen kann, zwängt sich Jerry hinterrücks in das Geplänkel und legt sanft seinen linken Arm um die Schulter des unhöflichen Wesens.
»Daniel-Schätzchen, sei bitte brav zu meinen Biografen von der New York Times .« Daniel-Schätzchen dreht sich herum und starrt Jerry ungläubig an. Irgendetwas stimmt nicht, an der Information oder der Dekodierung, alkoholisch bedingte Interferenzen in ungewöhnlich früher Phase des Sichwegknallens.
»Von der New York Times ?«
»Aber ja. Kennst du nicht die Rubrik, in der Schülerjournalisten aus der ganzen Welt eine bedeutende oder äußerst interessante Persönlichkeit ihres Heimatlandes aufsuchen und porträtieren?«
»Nein.«
»Eine Lücke.«
»Und du bist die bedeutende Persönlichkeit?«
»Die äußerst interessante.«
»Oh.«
»Ja.«
»Von der New York Times ?«
»Von der New York Times .« Daniel-Schätzchen dreht sich wieder in Richtung Harold und Melvin, doch etwas ist anders, erschreckend anders, das Gesicht in ein Lächeln maskiert, ein Antlitz der reinen Unschuld fern jeglicher Disharmonie, eine Mutation.
»Eine Freude, eine Ehre, Daniel Sutcliffe, Deflorationsexperte und Börsenmakler, schlichte Seelen sagen auch Guru, so sind die Menschen, da wehrt man sich vergebens. Willkommen in meiner bescheidenen Hütte, von Mies van der Rohe entworfen, wie einst Hugh Grant mir gegenüber erwähnte, als ich ihm meinen 1962er Ferrari für die Filmfestspiele in Cannes ausgeliehen habe. Wie wäre es mit einem Gläschen Champagner und einem Schälchen Fischeier?«
»Ganz bezaubernd, Daniel-Schätzchen, aber hier geht es um meine Wenigkeit. Außerdem neigen sich die Limetten dem Ende zu, und du weißt, wie wenig ich meinen Mojito ohne Limetten schätze. Also los, husch, husch, ab in die Küche.« Widerspenstig lässt Daniel-Schätzchen sich zur Seite schieben, derweil Jerry die New York Times -Biografen ins Innere führt.
Schockschwerenot.
Jede Farbe, die in den 70ern modern war, ist heimgekehrt. Mintgrün, Türkisblau, Plüschgelb, Hennarot. Alle wieder da. Auf Tapeten, Lampen, Boxen, Sesseln. Alle. Kreuz und quer, ohne Vernunft, ohne Mitleid, rücksichtslos, unmenschlich. Harold und Melvin suchen Schutz beim Büffet, derweil Jerry in ausgiebigen Begrüßungsritualen mit suspekten Individuen vertieft ist. Das Essen ist vergleichsweise farblos, doch Harold ist froh, überhaupt mal wieder Nahrung zu sehen. Exotische Salate, komischer Fisch, fremdes Obst und: Gurkensandwiches! Doch noch bevor Harold des Glücks in all seinen Ausmaßen gewahr wird, zupft Melvin störrisch an Harolds Gefieder.
Ein Mann mit wallendem Haar, nur mit Lendenschurz und Römersandalen bekleidet, wippt tänzelnd auf sie zu. An seinen Händen klebt Blut. Auch auf seiner nackten und frisch eingeölten Brust, die einen offenen Blick auf den hageren wie auch sportiven Körper ermöglicht. Die Dornenkrone auf seinem Haupt sieht echt aus und hinterlässt kleine Wunden auf der hohen Stirn. Mit Pupillen groß wie Schallplatten starrt er Melvin und Harold an.
»Wer seid ihr denn?«
»Das Huhn und das Ei.«
»Ich bin Jesus.«
»Christus?«
»Wer?«
»Der Sohn Gottes.«
»Nein.«
»Sondern?«
»Jesus.«
»Aha.«
In naher Zukunft erwartet Melvin von Jesus keine allzu großen Wunder und auch die anderen Gäste machen auf ihn nicht den Eindruck, als werde dieser Abend eine intellektuelle Herausforderung. Isaak Newton sieht aus, als halte er Quarks für eine Fruchtgummisorte, Oscar Wilde ist höchstens siebzehn und Greta Garbo schielt unablässig auf den rot-weiß gestreiften Strohhalm, der in ihrem Cocktailglas steckt. Nur der Pinguin, der an der linken Box steht und mit seinen Flossen ungelenk jeden Takt mitklatscht, gibt
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