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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Jahren die 1978er Robe von Sid Vicious anfertigen lassen und sei auf der Party von Ron Selby der absolute Star gewesen, der sich hemmungslos als Enfant terrible benehmen konnte, ohne dass sich irgend jemand echauffierte.
    Für Melvin aber ist die Kostümierung an sich ein bedauernswertes Missverständnis des menschlichen Vergnügungstriebes, eine nicht mehr wiedergutzumachende Übertretung des eigenen und des fremden Schamgefühls. Wenn man unbedingt Pirat sein möchte, warum wird man dann nicht Pirat, warum kleidet man sich mit chinesischer Mängelware ungelenk in ein trostloses Abziehbild? Weil es dann leichter fällt, mit animalischen Brunftlauten unkontrolliert seine Umwelt zu belästigen? Es lebe das Strafgesetzbuch! Das Problem nur ist, dass Jerry unmissverständlich klargestellt hat, dass es ohne Kostüm keinen Einlass gäbe.
    Peter Pan ist indiskutabel. Das Bienenkostüm noch sehr viel mehr. Auch als Cowboy, Indianer, Ritter und Mönch fühlt Melvin sich nicht wohl. Mit Cäsar könnte er sich arrangieren, aber er stolpert bei jedem Schritt über die viel zu lange Tunika. Es ist für ihn auch kein Trost, dass Harold der einzige Mensch auf Erden ist, der in einem Kostüm noch beklagenswerter als er selbst aussieht. Als Rocky ist Harold physiognomisch eine unantastbare Fehlbesetzung, als Elvis im Endstadium ein Schlag ins Gesicht, und auch als James Bond kommt er nicht über den stellvertretenden Vollwaschmittelverkäufer hinaus.
    Jakob Isaakstein hat sich die Kostümierung mit der Geduld einer Trauerweide angesehen, hier und da ein wenig kommentiert, zugesprochen und abgeraten, aber nie ändert er seinen Tonfall, nie zeigt er auch nur die kleinste Regung. Seit mehr als 40 Jahren ist er im Geschäft, er kennt sich aus mit schwierigen Kunden, er weiß, dass sie Zeit benötigen, und er weiß auch, wann sie an dem Punkt angelangt sind, an dem man ihnen jedes Kostüm vermitteln kann, auch die, die nicht so gut laufen.
    »Vielleicht«, sagt Jakob Isaakstein, »vielleicht sollten Sie thematisch zueinanderfinden.«
    Thematisch zueinanderfinden? Ein arbeitsloser Wurstfachverkäufer, der sich chronisch selbst umbringt und das wahrscheinlich größte lebende Genie seit Hegel? Melvin mustert Jakob Isaakstein, der ungerührt seinem Blick standhält.
    »Sie meinen so etwas wie Stan Laurel und Oliver Hardy? Bonny und Clyde, Batman und Robin, Hector und Achilles?«
    »So ähnlich.«
    Jakob Isaakstein verschwindet hinter einem beigefarbenen Vorhang, auf dem im Laufe der Jahrhunderte nikotingelbe Flecken und halbverweste Motten Einzug gefunden haben und für kleine Farbtupfer sorgen. Es raschelt im Verborgenen, Kartons fallen um, keuchendes Atmen und ein flehender Klagelaut, kaum hörbar, ein Zeichen des Erfolgs. Jakob Isaakstein ist fündig geworden. Schwere Last bürdet in seinen Armen und auf seinen Schultern, ein zufriedenes Lächeln umspielt seine schmalen Lippen, die keinerlei Farbe mehr aufweisen.
    »Da wäre es.«
    Melvin und Harold starren auf die beiden Kostüme, die Jakob Isaakstein auf den ehrwürdigen Holztisch neben der Napoleonbüste ablegt. Obwohl das größere der beiden Kostüme einen Kopf hat, findet Harold nicht, dass es die bessere Wahl wäre, und die Befürchtung, dass es gar keine Wahl gibt, stimmt ihn sorgenvoll.
    »Sie sind Jude?«, fragt Melvin, der die Schockstarre überwunden hat.
    »Absolut«, sagt Jakob Isaakstein mit der Begeisterung eines Topflappens.
    »Und Sie möchten uns für die Freveltaten an Ihrem Volk büßen lassen, weil Sie glauben, dass wir Deutsche sind?«
    Zum ersten Mal zeigt Jakob Isaakstein eine emotionale Regung, indem er seine linke Augenbraue einen guten Millimeter nach oben zieht. Und seine Haut, die wie vergessenes Weizentoast aussieht, spannt sich gegen ihre welke Natur, und wäre es noch etwas dunkler in diesem nebligen Raum, wäre ein geneigter Betrachter versucht, ihn ein oder gar zwei Jahre jünger zu schätzen, als er tatsächlich ist. Sein Volk? Seine Familie? An seine Eltern kann sich Jakob Isaakstein kaum mehr erinnern. Wenn er alte Fotos von ihnen anschaut, ist es, als seien sie Fremde aus einer anderen Welt, die jedes Jahr ein wenig mehr verblasst. Sie sind auch nicht durch Zyklon B, sondern durch einen betrunkenen Kraftfahrer aus Sheffield ums Leben gekommen.
    »Eigentlich nicht«, sagt Jakob Isaakstein.
    »Und trotzdem möchten Sie uns ernsthaft diese beiden Kostüme andrehen? Sie möchten, dass ein elfjähriger Junge dem Amüsement adoleszenter Kleinkrimineller

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