Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
hatte,
oder warm von dem ganzen Adrenalin. Meine Gedanken überschlugen sich. Trotzdem
versuchte ich mich auf eines zu konzentrieren, nämlich darauf, diesen Lauf zu
Ende zu bringen, und sei es aus purem Stolz.
Ich
erreichte das Motel ohne weitere Zwischenfälle, hatte also die mir selbst
auferlegte Strecke geschafft. Ich drehte noch ein paar Runden auf dem Parkplatz
vor meinem Zimmer, um mich abzukühlen und die Angst loszuwerden. Diese dumme,
dumme Angst.
Mein Bruder
kam die Straße hinuntergerannt und beendete seine eigene Joggingrunde. Hastig
ging ich zu meinem Motelzimmer und schloss die Tür auf.
»Halt,
hiergeblieben!«, rief er. »Du bleibst, wo du bist.«
Mist. Ich
kehrte ihm den Rücken zu.
Er fasste
mich an der Schulter, wirbelte mich herum und musterte mich von Kopf bis Fuß.
»Alles in
Ordnung?«, fragte er.
Er hatte einen
der Polizisten getroffen.
»Ja«, sagte
ich und versuchte, nicht beleidigt zu klingen. »Es geht mir gut. Wer hat dir
Bescheid gesagt?«
»Ich habe
Hollis Boxleitner getroffen«, sagte er. »Warst du gestern Nacht bei ihm?«
Ich nickte
und wich Tollivers Blick aus.
»Wir müssen
hier weg«, sagte er. »Und das könnten wir auch, wenn die hier endlich
rausfinden würden, wer es getan hat.«
»Vielleicht
würde es helfen, wenn ich zu Helens Leiche könnte. Vielleicht spüre ich
irgendwas.«
»Hollis
sagt, sie hätte einen Anruf bekommen, nachdem wir sie an jenem Morgen verlassen
haben. Der Anwalt hat sie angerufen. Paul Edwards.«
»Weshalb?«
»Das hat mir
Hollis nicht gesagt. Er hat es nicht zufällig gestern Nacht erwähnt?«
»Nein.« Ich
spürte, wie mein Kopf heiß wurde.
»Aber der Sheriff
will uns immer noch nicht ziehen lassen, weil er glaubt, wir wüssten
irgendwas.«
»Wir könnten
trotzdem fahren«, sagte ich. »Juristisch gesehen kann er uns doch nicht
zwingen, hierzubleiben, oder?«
»Ich glaube
nicht«, meinte Tolliver. Er hatte mich an den Armen gepackt, und als er
losließ, spürte ich dieses Kribbeln, wenn das Blut wieder durch Venen und
Arterien strömt. »Aber du weißt ja: Ein schlechtes Wort von Seiten der Polizei
genügt, und wir sind eine Menge Jobs los.«
Womit er
auch wieder recht hatte. Als sich das letzte Mal ein Polizeichef über mich
geärgert hatte - der fest davon überzeugt gewesen war, ich hätte bereits im
Vorfeld gewusst, wo die Leiche war, weil ich Kontakt zum Mörder hätte und nur
noch absahnen wollte -, hatte ich fast ein halbes Jahr keine Einnahmen gehabt.
Das war eine ziemlich harte Zeit gewesen, und ich hatte schon genug harte
Zeiten erlebt. Ich wollte nicht noch welche erleben, nie mehr.
»Dein Freund
wird ein gutes Wort für uns einlegen«, neckte mich Tolliver in dem Versuch,
meine Laune zu heben.
Ich
protestierte nicht einmal, dass er »mein Freund« gesagt hatte. Ich wusste, dass
er meine Beziehung zu Hollis nicht ernst nahm. Wie immer hatte er recht und
unrecht zugleich.
8
Das
Bestattungsinstitut Gleason and Sons war ein Ort schwerer
Teppiche und dunkler Ecken. Es war sehr malerisch in einem alten
viktorianischen Haus untergebracht. Außen umgab es ein kleiner Park, und innen
war es in einem ruhigen Blau gestrichen. Die Buntglasfenster mussten ein
kleines Vermögen gekostet haben. Das restaurierte viktorianische Anwesen
bestand aus zwei Ausstellungsräumen, einem Büro, in dem die Angehörigen Särge
und andere Dienstleistungen auswählen - und bezahlen -konnten, und einer Küche,
in der man den vielen Kaffee kochte, der von den Trauernden getrunken wurde.
Nach hinten schloss sich diskret ein niedriger, moderner Anbau an, der jene
trostlosen Räume enthielt, in denen die eigentliche Arbeit des
Bestattungsinstituts verrichtet wurde. Elijah Gleason zeigte uns den öffentlich
zugänglichen Teil, bevor wir in den modernen Anbau hinübergingen. Er war stolz
auf seinen Erfolg als Bestattungsunternehmer in dritter Generation, und ich
hatte Respekt davor, dass er eine ehrenvolle Tradition fortführte. Gleason war
ein kleiner, gedrungener Mann Ende dreißig, mit zurückgegeltem schwarzem Haar
und einem breiten, schmallippigen Mund.
»Das ist
meine Frau Laura«, sagte er, als wir an einer offenen Tür vorbeikamen. Die Frau
in dem Büro winkte uns zu. Sie hatte sehr kurze braune Haare und eine rundliche
Figur. »Im Winter macht sie die Buchhaltung, und im Sommer ist sie Hattie in Tante Hatties Eisdiele.« Die Frau lächelte und nickte abwesend, um sich
dann wieder ihrem Computerbildschirm zuzuwenden. An der Garderobe
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