Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
Geburtstag haben wir uns Glückwunschkarten geschickt.«
Tränen kullerten ihre dicken Wangen hinunter, und Annie griff nach einer
Schachtel Kleenex vor ihr auf dem Tisch. Sie tupfte sich über die Augen und
putzte sich selbstvergessen die Nase. »Schon unsere Mütter waren beste
Freundinnen, und wir kamen im selben Monat zur Welt.«
Ich
versuchte mir vorzustellen, auch so lange mit ein und derselben Person
befreundet zu sein. Annie Gibson musste ungefähr Ende dreißig sein. Ich
versuchte mir vorzustellen, Enkel zu haben, aber ich konnte mir nicht mal
vorstellen, wie es wäre, Kinder zu haben. Eine so lange Freundschaft wie die
zwischen Annie und Helen lag außerhalb meiner Vorstellungskraft.
Ich kann
froh sein, wenn ich überhaupt so alt werde, dachte ich und wunderte mich, wo
dieser Gedanke plötzlich herkam. Aber im Moment musste ich mich ganz auf die
Frau vor mir konzentrieren.
»Ich möchte
Sie etwas fragen, das Ihnen bestimmt nicht gefallen wird«, sagte ich. Ich hatte
es mit einer Frau zu tun, die nicht lange um den heißen Brei herumredete, und
ich spürte, dass es besser war, gleich mit der Sprache herauszurücken.
»Dazu muss
ich erst einmal wissen, worum es überhaupt geht.« Ihr Gesicht mochte schwammig
wirken, aber sie besaß einen eisernen Willen. »Manche Dinge bleiben lieber
ungesagt.«
»Das sehe
ich auch so«, stimmte ich ihr zu. Ich beugte mich vor und stützte die Ellbogen
auf die Knie. »Mrs Gibson, Helen hat uns selbst erzählt, dass sie eine schwere
Zeit durchgemacht hat, als sie Alkoholikerin war.«
Annie Gibson
nickte und ließ mich dabei nicht aus den Augen. »Das stimmt«, entgegnete sie.
»Als wir
Teenie fanden, war Helen sehr aufgewühlt und wollte uns dringend sprechen«,
sagte ich so vorsichtig wie möglich. »Und als ich sie dann über Teenie und
Sally informierte, meinte sie: ›Ich werde ihre Väter anrufen. ‹Was ich von
Ihnen wissen möchte, ist Folgendes: Wer war Teenies Vater?«
Annie
schüttelte den Kopf. Die braunen Locken schwangen so gleichmäßig mit, als seien
sie mit Haarspray fixiert worden. »Ich musste Helen versprechen, es nie
jemandem zu sagen. Sie hat mich sogar gebeten, es nicht mal Teenie zu erzählen,
falls sie mich danach fragen sollte.«
»Und, hat
sie gefragt?« Im Stillen war ich meinem Bruder sehr dankbar, dass er sich nicht
einmischte.
»Ja«, sagte
Annie, ohne zu zögern. »Ja. Kurz bevor sie starb.«
»Das muss
also ein ziemlich gefährliches Geheimnis sein. Sie hat danach gefragt und ist
anschließend gestorben. Helen sagt, dass sie Teenies Vater anrufen will, und
stirbt ebenfalls.«
Annie Gibson
wirkte überrascht, so als habe sie soeben zwei und zwei zusammengezählt. »Aber
das ist vollkommen unmöglich«, sagte sie. »Er hätte überhaupt keinen Grund
dazu.«
»Er muss
einen haben«, meinte ich. Ich versuchte so freundlich und vernünftig zu klingen
wie möglich. »Ich habe Helen erzählt, dass Hollis' Frau, Sally, ebenfalls
ermordet wurde. Jetzt sind alle drei Mitglieder dieser Familie tot. Und alle
wussten, wer Teenies Vater war.«
»Aber nicht
Teenie selbst«, sagte Annie Gibson. »Teenie hat es nie erfahren. Ich hab ihr
nichts erzählt, denn das hatte ich Helen versprochen. Und ich wusste, dass sie
Helen oft danach gefragt hatte, als sie den Verdacht hegte, dass es nicht Jay
war.«
»Jay?«,
fragte Tolliver.
»Helens
Mann. Sallys Vater. Er wird auch zur Beerdigung kommen. Er war zwar von Helen
geschieden, aber ich nehme an, dass er jetzt das Haus erbt. Er hat mich heute
Morgen angerufen.«
»Wo wohnt
er?« Ich überlegte, ob er wohl mit uns reden würde.
»Er wohnt in
dem Motel, in dem Sie auch übernachten. Aber von dem werden Sie nicht viel
erfahren. Helen hat mit dem Trinken aufgehört, aber Jay nicht. Sie musste eine
einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken, etwa ein, zwei Jahre nach Sallys
Geburt. Jay war mal ein schöner Mann, und er hatte nette Eltern. Aber er ist
keinen Pfifferling wert.«
»Wir haben
Erfahrung im Umgang mit Betrunkenen«, sagte ich.
»Ach, damit
kennen Sie sich aus?« Sie musterte mich rücksichtslos. »Ich hab mir schon so
was gedacht.«
»Was?«
»Dass Sie bei
Alkoholikern aufgewachsen sind. Diese Kinder verbindet etwas, und ich kann es
sehen. Das kann nicht jeder.«
Ich war also
nicht die Einzige auf dieser Welt mit einer besonderen Gabe.
Tolliver und
ich erhoben uns, und auch Annie kämpfte sich aus ihrem Sessel. Ich sah mich in
dem kleinen Haus um und bemerkte, dass sie
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