Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
sie genauso alt aus, wie sie war, und
kein Stück älter. Sie hätte eigentlich zu Hause sein sollen, an ihrem
Englischaufsatz schreiben oder mit einer Freundin wegen der Verabredung vom
letzten Abend telefonieren, statt mit einer Frau wie mir in einem Motelzimmer
zu sitzen.
»Du hast
gesagt, du hättest einen Anwalt angerufen«, meinte ich. »Warum nicht Paul
Edwards?«
»Ich glaube,
meine Mom wird Mr Edwards heiraten«, sagte sie unvermittelt.
»Du kannst
ihn nicht leiden?«
»Wir kommen
schon klar«, sagte Mary Nell. »Er hat schon immer mehr oder weniger zur Familie
gehört. Er und mein Dad waren Freunde, und meine Mom hat früher schon bei allem
seinen Rat eingeholt. Dell konnte Mr Edwards noch nie besonders leiden, und sie
hatten heftigen Streit, bevor Dell starb.«
»Worum ging
es da?«, fragte ich beiläufig.
»Keine Ahnung.
Das wollte mir Dell nicht erzählen.
Er hatte
irgendwas rausgefunden und ging zu Mr Edwards, weil er mit ihm drüber reden
wollte. Aber was Mr Edwards da sagte, gefiel Dell wohl ganz und gar nicht.«
»War es
irgendwas, das er über Paul herausgefunden hatte?«
»Ich weiß
nicht, ob es um Mr Edwards oder jemand anders ging. Dell dachte wohl, Mr
Edwards könne ihm helfen, ihm eine Antwort geben.«
»Oh.« Keiner
der Buchstaben war ein P oder E, wenn man davon ausging, dass die Buchstaben,
die Sally aufgeschrieben hatten, eine Person bezeichneten. Mist, warum
schreiben die Leute nicht einfach hin, was sie meinen? Zum Teufel mit den
Abkürzungen!
»Ich dachte,
Dell und du, ihr hättet euch nahegestanden«, sagte ich, was taktlos und dumm
war. »Es wundert mich, dass er dir nicht gesagt hat, was ihn so wütend machte.«
Sie sah mich
böse an. »Nun, dafür, dass wir Bruder und Schwester sind, standen wir uns sehr
nahe.«
»Was soll
das nun wieder heißen?«
»Es gibt nun
mal Sachen, über die reden Brüder und Schwestern nicht«, sagte sie in einem
Ton, als müsse sie einem Eskimo erklären, was Schnee ist. »Es gibt bestimmt
Dinge, über die Sie auch nicht mit Tolliver reden, oder? Oh, ich vergaß. Sie
sind ja nicht seine richtige Schwester. Also können Sie das auch
nicht wissen.«
Touche.
»Brüder und
Schwestern reden nicht über Sex, vermutlich nicht mal, wenn sie erwachsen
sind«, erklärte sie mir. Mir fiel wieder ein, wie schockiert sie gewesen war,
als sie mir verriet, Teenie sei von ihrem Bruder schwanger gewesen. »Brüder und
Schwestern reden auch nicht darüber, welche Freunde es tun und welche nicht.
Aber über andere Sachen schon.«
»Hast du
Scot gebeten, herzukommen und mich zusammenzuschlagen?«, fragte ich.
Sie zuckte
zusammen. »Wovon reden Sie?«
Die
Flüsterpost von Sarne funktionierte wohl doch nicht so gut, wie ich dachte. Sie
hatte tatsächlich keine Ahnung. »Irgendjemand hat Scot dafür bezahlt, dass er
sich gestern Abend in meinem Zimmer versteckte. Er sollte mich
zusammenschlagen. Genau wie am Tag davor, nur dass er diesmal allein war. Wenn
Hollis Boxleitner nicht da gewesen wäre, läge ich jetzt bestimmt im
Krankenhaus.«
»Das wusste
ich nicht!«, sagte sie, und ich bekam sofort wieder ein schlechtes Gewissen.
Aber es gibt nun mal keine schonendere Möglichkeit, jemandem so etwas
beizubringen. »Was ist bloß los in unserer Stadt? Bevor Sie aufgetaucht sind,
war alles bestens!«
Das wurde ja
immer schöner. »Deine Mutter hat mich engagiert«, rief ich ihr wieder ins
Gedächtnis. »Alles, was ich getan habe, war, Teenies Leiche zu finden. Genau
wie man es von mir erwartet hat.«
»Es wäre
besser, Sie hätten sie nie gefunden«, sagte Neil kindisch, so als hätte ich die
Folgen vorhersehen können.
»Das war nun
mal mein Job. Sie hätte gar nicht erst im Wald liegen und darauf warten dürfen,
gefunden zu werden. Ich habe einfach nur meinen Job gemacht, und das war auch
gut so.« Ich versuchte mich wieder zu beruhigen.
»Aber warum
passiert das dann alles?«, fragte sie, als ob ich eine Antwort darauf hätte.
»Was ist da los?«
Ich
schüttelte ratlos den Kopf. Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Sobald ich
eine hätte, würde ich meinen Bruder befreien und keinen Fuß mehr in diese Stadt
setzen.
Nell verließ
mich, um zur Schule zu gehen. Sie wirkte verunsichert und sehr, sehr jung.
Ich fuhr zum
Polizeirevier, um eine Aussage zu dem gestrigen Überfall zu machen und zu
fragen, wann ich Tolliver sehen könnte. Ich fürchtete mich fast, die Polizistin
danach zu fragen. Es war dieselbe rundliche Frau, mit der ich zu tun gehabt
hatte,
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