Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
als ich vor einer Woche zum ersten Mal hier gewesen war. Ich hatte
Angst, meine Frage könnte erst recht dazu führen, dass man mir den Besuch unter
irgendeinem Vorwand verweigerte. Und ich wusste nicht mal, wer »man« war.
»Besuchszeit
ist dienstags und freitags von zwei bis drei«, sagte sie und vermied es dabei,
mich anzusehen, als sei ich ein zutiefst verabscheuungswürdiges Geschöpf.
Da es
Dienstag war, würde ich ihn am Nachmittag sehen können. Aber ich wusste nicht,
was ich bis zwei machen sollte. Im Motelzimmer hielt ich es nicht mehr aus. Ich
fuhr hinaus auf den Friedhof, den neueren. Ich wollte noch mal zum Familiengrab
der Teagues, zum verstorbenen Zweig der Familie. Diesmal konnte ich ganz in der
Nähe parken. Ich hatte mich ziemlich warm angezogen, da die Temperatur stark
gefallen war. Anfang November war in Arkansas noch nicht mit Schnee zu rechnen,
aber in den Ozarks war es durchaus möglich. Ich hatte den roten Schal um den
Hai gewickelt, trug rote Handschuhe und dazu eine knallblaue Daunenjacke. Ich
bin gern weithin sichtbar, vor allem in Arkansas, während der Jagdsaison. Es
war das erste Mal in diesem Herbst, dass ich mich so dick eingepackt hatte, und
ich fühlte mich wie ein Kind, das zum ersten Mal raus in den Schnee darf.
Ich
betrachtete die menschenleere Landschaft. Auf der anderen Seite der Landstraße
lag in Richtung Westen ein kleines Waldstück. Nach Norden hin erkannte ich eine
Ansammlung von Häusern, nicht mehr als zwanzig Stück. Alle hatten einen Garten,
Sonnenterrassen und Gasgrills vor den Glasschiebetüren. Autos waren keine zu
sehen, denn jeder bemühte sich, das Vorstadtidyll intakt zu halten. Der
Friedhof erstreckte sich in südlicher Richtung über einen Hügel, der Teil einer
Kette war, die den Blick nach Osten versperrte. Es war ein friedlicher Ort.
Das
Teague-Grab war leicht zu finden. Auf einem Sockel in der Mitte erhob sich ein
großer Grabstein. Sowohl auf der Süd- als auch auf der Nordseite trug er die
Inschrift Teague. Ich schritt durch die Reihen der Teagues und
ging langsam von Grab zu Grab. In dieser Familie wurde man nicht besonders alt.
Dells Großvater war erst zweiundfünfzig gewesen, als er einen schweren
Herzinfarkt erlitt. Zwei Geschwister des Großvaters, die schon im
Kleinkindalter gestorben waren, lagen auch hier. Dells Großmutter war aus
härterem Holz geschnitzt. Sie war zweiundsiebzig geworden und erst vor zwei
Jahren gestorben - hauptsächlich an einer Lungenentzündung. Ich schickte Dell
einen Gruß. Sein früher Tod senkte die durchschnittliche Lebenserwartung in
dieser Familie natürlich beträchtlich. Ich zog die beiden Zahlen auf dem
Grabstein seines Vaters voneinander ab und stellte fest, dass Dells Dad erst
siebenundvierzig gewesen war, als ihn Sybil mit dem Gesicht auf dem
Schreibtisch gefunden hatte.
Natürlich
hatte ich es die ganze Zeit auf Dick Teague abgesehen gehabt. Als ich seine
letzte Ruhestätte betrat, spürte ich so etwas wie Vorfreude, wie wenn man kurz
davor steht, ein köstliches Dessert zu genießen. Ich schickte meine speziellen
Fühler tief hinunter in den felsigen Boden, damit sie Kontakt zu dem Leichnam unter
mir aufnehmen konnten. Ich untersuchte Dick Teague mit der Sorgfalt, die er
verdiente. Ich musste allerdings feststellen, dass Schuhe, Erde und der Sarg
die Wahrnehmung empfindlich erschwerten. Ich musste den Kontakt intensivieren,
ging vor dem Grabstein auf die Knie und legte meine Hände auf die Erde. Genau
in dem Moment hörte ich einen Knall aus dem Wald im Westen. Irgendetwas stach
mich so schmerzhaft ins Gesicht, dass ich laut aufschrie.
Ich führte
meine behandschuhte Hand zum Gesicht und sah Blut. Mein Blut hatte einen
anderen Rotton als meine Handschuhe, und ich musterte es einigermaßen erstaunt.
Dann hörte ich wieder so ein Knallen und merkte, dass man auf mich schoss.
Statt mich
hinzuhocken, ließ ich mich in einer fließenden Bewegung auf den Bauch fallen.
Zum Glück war das nicht im Tal passiert, wo die Landschaft so flach ist, dass
man sich nicht mal vor einer Fliege verstecken kann. Ich robbte ein Stück
vorwärts, um hinter dem Grabstein Schutz zu suchen. Er war zwar nicht so breit
wie ich, aber etwas Besseres fiel mir in dem Moment nicht ein.
Zum Glück
steckte das Handy in meiner Jackentasche. Ich streifte den Handschuh ab und
wählte die 911. Ich hörte, dass die Frau dran war, die mir gerade auf der
Polizei gegenübergesessen hatte. »Ich bin auf dem Friedhof an der
314er-Landstraße,
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