Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
und etwas auf Dick Teagues Schreibtisch entdeckt
hatte, das ihre Neugier oder ihr Interesse geweckt hatte. Und zwar so sehr,
dass sie sich eine Notiz gemacht und zu Hause etwas in ihrem Schulbuch
nachgeschlagen hatte. »SO IO DA NO« sagte auch Tolliver nichts.
»Vielleicht
ein Anagramm?«, fragte er.
»Wenn, ist
es mir noch nicht gelungen, ein Wort daraus zu bilden. Und Initialen sind es
auch keine. Ich habe versucht, die Buchstaben rückwärts zu schreiben. Ich habe
die korrespondierenden Zahlen notiert. Ich habe es auch mit den Buchstaben
versucht, die im Alphabet genau eins davor und eins danach kommen. Ich glaube
nicht, dass sich Sally Boxleitner einen komplizierteren Code ausgedacht hätte.«
Tolliver
überlegte einen Moment. Unter meinen Fingern konnte ich seinen Puls fühlen,
stabil und lebendig.
»Und was lag
auf seinem Schreibtisch?«, fragte Tolliver.
»Versicherungsunterlagen.«
»Von wem?«
»Laut Sybil
ist er die Arztrechnungen der Familie vom vergangenen Jahr durchgegangen.«
»Und er hat
wirklich einen Herzinfarkt erlitten?«
»Ja, genau
das habe ich auf dem Friedhof überprüft. Er ist wirklich an einem Herzinfarkt
gestorben. Das liegt in der Familie. Dicks Vater ist auch sehr früh daran
gestorben, wenn auch nicht ganz so früh wie Dick.«
»Ich habe
hier viel Zeit zum Nachdenken. Vielleicht fällt mir etwas zu den
Buchstabenkombinationen ein. Ich kann schließlich sonst nichts tun«, sagte
Tolliver und bemühte sich, nicht allzu verbittert zu klingen.
Ich
räusperte mich. »Ich hab dir eines von deinen Büchern mitgebracht. Sie
durchsuchen es wahrscheinlich noch nach versteckten Botschaften und werden es
dir geben, wenn du wieder in deiner Zelle bist.«
»Oh, danke.«
Es entstand eine kurze Pause, in der er mit irgendetwas kämpfte. Vergeblich.
»Ich sitze bestimmt hier, damit ich dich nicht beschützen kann, wenn man
versucht, dir wehzutun;«
»Ich weiß.«
»Ich war in
meinem Leben noch nie so wütend.«
»Das ist mir
nicht entgangen.«
»Wir müssen unbedingt
herausfinden, wer mich einlochen wollte.«
»Bestimmt...
bestimmt war es Jay Hopkins.«
»Wie kommst
du darauf?«
»Marv
Bledsoe ist ein alter Kumpel von ihm. Und Marv wiederum ein Cousin von Paul
Edwards. Oder aber Harvey, der Sheriff, hat Marv höchstpersönlich befohlen,
dich zu verhaften.«
»Von allen
dreien wäre mir Jay der Liebste.«
Ich nickte.
Jay war der Schwächste von allen.
»Die Zeit
ist um«, sagte der Aufseher, und die anderen beiden Besucher erhoben sich.
Tolliver und ich sahen uns an. Es kostete mich viel Kraft, mir meine Angst
nicht anmerken zu lassen. Tolliver ging es bestimmt genauso.
»Ich seh
dich dann morgen im Gerichtssaal«, sagte er, als der Aufseher langsam
ungeduldig wurde. Ich ließ seine Hände los und schob den Stuhl zurück.
Fünf Minuten
später stand ich draußen in der sonnigen, herbstlichen Kälte und überlegte, was
ich als Nächstes tun konnte. Dabei kam ich nicht umhin, mich zu fragen, ob mich
wohl jemand beobachtete, und ob dieser Jemand ein Gewehr in der Hand hatte. Ob
ich überhaupt lange genug leben würde, um Tolliver aus dem Gefängnis zu holen?
Ich verachtete mich für meine Angst, denn im Gegensatz zu meinem Bruder war ich
wenigstens auf freiem Fuß. Er war im Gefängnis bestimmt auch nicht sicherer als
ich in Freiheit, vor allem, wenn der Sheriff unser Feind war.
Am Verkehr
sah ich, dass die Schule aus war. Insofern wunderte ich mich nicht weiter, als
meine neue beste Freundin, Mary Nell Teague, mit ihrem Kleinwagen neben mir
hielt. »Steigen Sie ein!«, rief sie mir zu, und ich kletterte auf den
Beifahrersitz. Ich wunderte mich, dass sie ganz allein war und sich in aller
Öffentlichkeit mit mir zeigte.
»Haben Sie
ihn gesehen?«, fragte sie, setzte zurück und fuhr dann mit einer
Geschwindigkeit los, die man nur als leichtsinnig bezeichnen konnte.
»Ja.«
»Sie haben
mich nicht zu ihm gelassen, da ich weder mit ihm verwandt noch verheiratet
bin.« Sie sprach in einem so beleidigten und gleichzeitig erstaunten Ton, als
seien die Aufseher außergewöhnlich engstirnig, nur weil sie keinen
liebeskranken Teenager zu einem Gefängnisinsassen lassen wollten. Mir ging
dieses Mädchen unheimlich auf die Nerven, mit ihrer penetranten Verknalltheit
und der Selbstverständlichkeit, mit der sie erwartete, dass sich alles nur um
sie drehte. Aber gleichzeitig hatte ich Mitleid mit ihr und hoffte, sie könne
uns dabei helfen, herauszufinden, was wirklich in Sarne vor sich
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