Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
ging.
Am besten,
sie fing gleich damit an. »Mary Neil, was weißt du über Jay Hopkins?«
»Er war mal
mit Miss Helen verheiratet«, sagte sie, »aber das wissen Sie längst.«
»Hatte er
irgendwelchen Kontakt zu Dell?«
»Was ändert
das schon? Ich gebe mich nicht mit solchen Gestalten ab.«
»Das ist
alles nicht leicht für dich. Trotzdem wird es höchste Zeit, dass du mal ein
bisschen erwachsen wirst.«
»Ach, bin
ich das nicht schon im letzten Jahr?«
»Du hast
schon einige Tragödien erleben müssen, aber soweit ich das beurteilen kann, hat
dich das auch nicht reifer gemacht.«
Sie fuhr
rechts ran und hatte Tränen in den Augen. »Ich fasse es einfach nicht«,
schluchzte sie. »Sie sind so was von gemein! Tolliver hat eine bessere
Schwester verdient als Sie!«
»Das stimmt.
Aber er hat nun mal nur mich, und ich muss alle Hebel in Bewegung setzen, um
ihm zu helfen. Und ich habe auch nur ihn.« Mir fiel auf, dass sie meine Frage
noch immer nicht beantwortet hatte. Aber wahrscheinlich war auch das eine
Antwort.
Sie wischte
sich mit einem Taschentuch die Tränen ab und putzte sich die Nase. »Warum
stellen Sie mir ständig Fragen über alle möglichen Leute?«
»Irgendjemand
hat heute auf mich geschossen. Irgendjemand hat deinen Verehrer dafür bezahlt,
mich zusammenzuschlagen, und irgendjemand hat ihn in mein Motelzimmer gelassen.
Ich glaube nicht, dass das seine Idee war, oder was meinst du?«
Sie
schüttelte den Kopf. »Als ich mich gestern mit Scot unterhalten habe, war er
wütend auf mich und wütend auf Sie. Aber er wollte Sie in Ruhe lassen. Mr
Random, der Footballtrainer, hat Scot befohlen, sich vor die versammelte
Mannschaft zu stellen. Dann hat er ihn Liegestütze machen lassen, bis er nicht
mehr konnte. Anschließend hat ihm sein Dad auch noch für einen Monat den
Fernseher und das Telefon weggenommen.«
»Aber was
kann nur in der Zwischenzeit passiert sein, dass er sich in mein Motelzimmer
geschlichen hat?« Erst die Liegestütze und dann weder Fernsehen noch Telefon.
Es freute mich zu hören, dass sein Überfall auf mich mit einer strengen Strafe
geahndet worden war.
»Haben Sie
schon mal darüber nachgedacht, ob es nicht Ihr Schatz Hollis war, der ihm das
eingeflüstert hat?« Mary Nell ging zum Gegenangriff über.
»Nein, das
habe ich nicht. Wie kommst du darauf?« Sie wollte mich provozieren, was ihr
auch beinahe gelungen wäre, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen.
»Vielleicht
hat Hollis ja nur auf eine Gelegenheit gewartet, Sie vor irgendetwas retten zu
können und anschließend als Held dazustehen? Und vielleicht hat er ja auch auf
Sie geschossen, falls es überhaupt stimmt, was Sie mir da erzählt haben.«
»Aber warum
sollte er auf mich schießen?«
»Damit Sie
ihn brauchen«, sagte sie. »Damit Sie sich an ihn klammern. Jetzt, wo er Ihren
Bruder aus dem Weg geschafft hat, brauchen Sie doch einen Verbündeten, oder
etwa nicht? Vielleicht hat ja Hollis dafür gesorgt, dass Tolliver verhaftet
wurde.«
Ich war
wirklich beeindruckt von Mary Nell. Das waren ganz schön raffinierte
Schlussfolgerungen für eine Siebzehnjährige. Und was sie da sagte, klang
durchaus einleuchtend. Ich glaubte ihrer Theorie über Hollis nicht, musste sie
aber wenigstens kurz in Erwägung ziehen. Sie war genauso einleuchtend wie jede
meiner Theorien, ja vielleicht sogar noch einleuchtender. Mir fiel wieder ein,
wie ich am Vorabend Sex mit Hollis gehabt hatte. Einen furchtbaren Moment lang
überlegte ich, ob er mich vielleicht schon von Anfang an hinters Licht geführt
hatte. Aber als die Vernunft wieder einsetzte, begriff ich, dass sich Mary Neil
nur an mir rächen wollte, nicht zuletzt deshalb, weil ich eine engere Beziehung
zu meinem Bruder hatte, als sie es je haben würde.
Was für ein
albernes Mädchen. Aber während ich zusah, wie sie ihr Gesicht abtupfte und sich
die Haare bürstete, fiel mir ein, dass sie gerade mal sieben Jahre jünger war
als ich. Mary Neils Leben war bisher sicherlich kein Spaziergang gewesen, aber
immer noch angenehmer als meines. Als ich in Mary Neils Alter war, hatte sich
mein früheres Leben von Grund auf verändert, von der Sache mit dem Blitz mal
ganz abgesehen. Ich hatte miterleben müssen, wie Erwachsene, die ich kannte und
liebte, ihre Zukunft im Klo runterspülten. Und ich hatte meine Schwester
Cameron verloren, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
»Sehen Sie
mich nicht so an!«, sagte Mary Nell mit zitternder Stimme. »Wissen Sie
überhaupt noch, wo
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