Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
meinen also, dass die
das mit dem Haftbefehl aus Montana einfach unter den Tisch fallen lassen?«
Sie warf
einen kurzen Blick auf ihre Uhr. »Ich denke schon. Wir haben noch etwas Zeit,
bis sie ihn hereinbringen. Am besten, wir suchen uns ein ruhiges Plätzchen, und
Sie erzählen mir die ganze Geschichte.«
Auch wenn es
in dem kurzen Zeitraum so gut wie unmöglich war, Phyllis Folliette alles zu
erzählen, was in den letzten Tagen in Sarne vorgefallen war, konnte ich ihr
doch eine passable Zusammenfassung der Ereignisse bis zu Tollivers Verhaftung
geben.
»Irgendjemand
in dieser Stadt hat etwas gegen Sie«, sagte sie nach kurzem Schweigen. »Das
erinnert mich ja schon fast an eine Treibjagd. Egal, was ich von Ihrem Beruf
halte, Miss Connelly - was man Ihnen da antut, ist absolut unzulässig.
Anscheinend hält man Ihren Bruder nur deshalb fest, um Ihnen noch deutlicher zu
machen, wie unerwünscht Sie hier sind. Ich werde mein Bestes tun, um ihn da
rauszuholen. Er ist letztes Jahr tatsächlich in Montana verhaftet worden, nicht
wahr?«
Ȁh, ja.
Dieser Typ hatte einen Stein nach mir geworfen, und da hat sich Tolliver
natürlich aufgeregt.«
»Natürlich«,
sagte sie, so als habe sie es jeden Tag mit Mandanten zu tun, die beinahe
gesteinigt werden. »Und Tolliver hat sich so aufgeregt, dass der Mann
anschließend ins Krankenhaus musste?«
»He, die
Anklage wurde fallen gelassen!«
»Hm. Ich
glaube, in diesem Fall hatten Sie echt Glück mit dem Richter.«
»Haben Sie
eine Schwester?«
»Äh... ja.«
»Wenn
irgendjemand Steine nach ihr werfen würde, würden Sie den Steinewerfer doch
auch angreifen, oder?«
»Ich glaube,
ich würde mich zunächst mal um meine Schwester kümmern. Und dann würde ich
dafür sorgen, dass die Polizei den Steinewerfer verhaftet.«
»Und jetzt
betrachten Sie die Sache mal aus der Perspektive eines Mannes.«
»Ich
verstehe, was Sie meinen.«
»Sie haben
mit Tolliver gesprochen, stimmt's?«
»Ja, ich
durfte heute Vormittag zu ihm. Er hat den Vorfall erwähnt, mir aber keine
Details verraten.«
Ich
lächelte. »Typisch Tolliver.«
»Sie beide
stehen sich sehr nahe«, bemerkte sie. »Warum die unterschiedlichen Nachnamen?
War einer von Ihnen mal verheiratet?«
»Nein«,
sagte ich. »Sein Vater heiratete meine Mutter, als wir beide Teenager waren.«
Ich sprach nur sehr ungern darüber.
Sie nickte
und sah mich schräg von der Seite an. Dann entschuldigte sie sich, da sie auf
die Toilette müsse, und ich starrte eine Weile vor mich hin. Als Phyllis
wiederkam, begrüßte sie im Vorübergehen eine Menge Leute, vor allem jedoch
einen ergrauenden Mann Anfang fünfzig, der eine Brille und einen schicken Anzug
trug.
Nachdem er
den Gerichtssaal betreten hatte, kam Phyllis Folliette wieder zu mir und nickte
mir kurz zu. »Es wird Zeit, reinzugehen, sonst bekommen wir keinen Platz mehr.«
Wir reihten uns in die Schlange ein, die durch die dicken Doppeltüren in den
Saal strömte.
Die Decke
hing irgendwo in den Wolken. Ein unglaubliches Stimmengewirr erfüllte den Saal,
das sich dort während der letzten Jahre aufgestaut zu haben schien. Phyllis und
ich setzten uns schweigend, immer mehr Menschen strömten nach. Die Aufseher
brachten eine Reihe von Gefangenen herein, und ich entdeckte auch Tolliver.
Ich stand
auf, damit er mich gleich sehen konnte. Er blickte ernst zu mir herüber. Ich
setze mich wieder auf den hölzernen Klappstuhl. »Er sieht okay aus«, sagte ich
zu meiner Anwältin, wie um mich selbst zu beruhigen. »Finden Sie nicht auch?«
»Oh ja«,
stimmte sie mir zu. »Obwohl ich finde, dass ihm dieses Orange nicht besonders
gut steht.«
»Nein«,
sagte ich. »Da bin ich ganz Ihrer Meinung.«
Als sich
alle gesetzt hatten, sagte Phyllis: »Jetzt wo wir etwas Zeit haben ... Ich bin
einfach nur neugierig. Sind Sie irgendwie mit dieser Cameron Connelly verwandt,
die vor ein paar Jahren in Texas entführt wurde? Ich frage deshalb, weil Art
Barfield meinte, Sie seien in Texas aufgewachsen. Sowohl Sie als auch das
verschwundene Mädchen haben Vornamen, die auch Nachnamen sein können, falls Sie
verstehen, was ich meine.«
»Ja, ich
verstehe«, sagte ich, obwohl ich mich im Moment nicht besonders auf die
Unterhaltung konzentrieren konnte. »Ich wurde nach der Familie der Mutter
meines Vaters benannt und Cameron nach der Familie der Mutter meiner Mutter.
Sie war meine Schwester.«
»Sie
benutzen die Vergangenheitsform. Wurde sie je gefunden, nachdem die Medien
aufhörten, über den
Weitere Kostenlose Bücher