Harper Connelly 03 - Ein eiskaltes Grab-neu-ok-14.12.11
Mittagessen im Flur
hören.
»Tolliver«,
sagte ich, »weißt du noch, wie wir alle zusammen losgezogen sind, um einen
Weihnachtsbaum zu kaufen?«
»Ja, das war
in dem Jahr, als wir zusammengezogen sind. Deine Mutter war schwanger.«
Der
Wohnwagen war ganz schön eng für uns gewesen: meine ältere Schwester Cameron und ich in einem Zimmer, Tolliver und sein Bruder
Mark in einem zweiten, Tollivers Vater und meine schwangere Mutter im dritten.
Außerdem herrschte damals ein ständiges Kommen und Gehen, wegen der zwielichten
Freunde unserer Eltern. Aber wir Kinder hatten beschlossen, dass wir einen Baum
haben mussten, und da unseren Eltern ohnehin alles egal war, beschlossen wir,
selbst einen zu besorgen. In dem Wäldchen um das Wohnwagengelände fanden wir
eine kleine Kiefer und fällten sie. Wir hatten einen weggeworfenen Ständer vom
Sperrmüll beschafft, und Mark hatte ihn repariert.
»Das hat Spaß
gemacht«, sagte ich. Mark, Tolliver, Cameron und ich
waren uns auf dieser kleinen Expedition nähergekommen, und anstatt einfach nur
Kinder zu sein, die unter ein und demselben Dach lebten, verbündeten wir uns
gegen unsere Eltern. Wir waren unsere eigene Interessengemeinschaft. Wir
deckten uns gegenseitig und logen, um unsere Familie zusammenzuhalten, vor
allem, nachdem Mariella und Gracie auf der Welt waren.
»Sie würden
längst nicht mehr leben, wenn wir nicht gewesen wären«, sagte ich.
Tolliver
blickte einen Moment lang verständnislos drein, bis er begriff, wovon ich
redete. »Nein, unsere Eltern waren nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern«,
sagte er. »Aber das war das schönste Weihnachten, das ich je hatte. Sie haben
daran gedacht, loszuziehen und ein paar Geschenke zu besorgen, weißt du noch?
Mark und ich wären lieber gestorben, als das zuzugeben, aber wir waren so froh,
euch beide zu haben und deine Mom. Damals war sie
eigentlich noch ganz in Ordnung. Sie bemühte sich, gesund zu bleiben, wegen der
Babys, zumindest wenn sie sich an sie erinnerte. Und diese Kirchengruppe hat
einen Truthahn vorbeigebracht.«
»Wir haben
das Rezept genau befolgt. Es war okay.«
Wir hatten
ein Kochbuch besessen, und Cameron war davon
ausgegangen, dass wir das Rezept lesen konnten wie alle anderen auch.
Schließlich waren unsere Eltern einmal Anwälte gewesen, bevor sie Gefallen an
dem Leben und den schlechten Angewohnheiten der Leute fanden, die sie
verteidigten. Wir haben gute Gene. Zum Glück war es ein Kochbuch für Anfänger, das
keinerlei Vorkenntnisse voraussetzte, und der Truthahn war wirklich gelungen.
Die Füllung war ein Fertigprodukt, und die Preiselbeersauce kam aus der Dose.
Wir hatten einen tiefgekühlten Pumpkin Pie gekauft und
eine Dose grüne Bohnen aufgemacht.
»Es war mehr
als okay«, sagte er.
Er hatte
recht. Es war herrlich gewesen.
Cameron war
so willensstark gewesen an jenem Tag. Meine ältere Schwester war hübsch und
klug. Wir hatten überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Manchmal fragte ich
mich sogar, ob wir wirklich Schwestern waren, so wie sich unsere Mutter
verändert hatte. Man verliert schließlich nicht auf einen Schlag jedes
Moralempfinden, so etwas geschieht nach und nach. Ich ertappte mich bei dem
Gedanken, dass es damit vielleicht schon jahrelang, noch bevor sie und mein
Vater sich trennten, nicht mehr so weit her gewesen war. Aber vielleicht
täusche ich mich da. Ich hoffe es zumindest. Als Cameron vermisst
wurde, fühlte ich mich, als habe man mein Leben in zwei Hälften geschnitten.
Bevor das mit Cameron passierte, war die Situation
schlimm, aber erträglich, doch danach brach alles zusammen: Ich kam in eine
Pflegefamilie, mein Stiefvater und meine Mutter kamen ins Gefängnis, und
Tolliver wohnte mit Mark zusammen. Mariella und Gracie kamen zu Tante Iona und
deren Mann.
Camerons
Rucksack, der am Rand jener Straße gefunden wurde, die sie damals auf ihrem
Heimweg von der Schule benutzt hatte, ist noch immer in unserem Kofferraum. Die
Polizei hat ihn uns erst nach Jahren zurückgegeben. Wir nehmen ihn überallhin mit.
Ich nahm
einen Schluck Wasser aus meiner grünen Krankenhaustasse. Ich habe mich schon
seit Langem damit abgefunden, dass sie tot und für immer weg ist. Eines Tages
werde ich sie finden.
Manchmal
erspähe ich zufällig eine zierliche junge Frau mit langen blonden Haaren, ein
Mädchen mit elegantem Gang und einer geraden Haltung, und dann möchte ich ihr
am liebsten hinterherrufen. Doch wenn Cameron noch
leben würde, wäre sie kein Mädchen mehr.
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