Harper Connelly 03 - Ein eiskaltes Grab-neu-ok-14.12.11
ich
keine Hellseherin. Aber vielleicht ...« Ich verstummte. Beide Agenten blickten
mich mit dem Gesichtsausdruck an, den ich so gut kannte und der besagte: Aufgepasst! Jetzt versucht sie ihre Version mit der der anderen Verrückten in
Einklang zu bringen, sie abzusichern und auszuschmücken.
Ebenso
langsam wie widerwillig sagte ich: »Haben Sie jemals daran gedacht, dass es
zwei Mörder geben könnte?«
Beide
glotzten mich an. Ich kann die Lebenden nicht ansatzweise so gut durchschauen
wie die Toten. Bisher war mir das bei den beiden Agenten ganz gut gelungen,
aber ihr jetziger Gesichtsausdruck gab mir Rätsel auf.
»Mehr kann
ich Ihnen auch nicht sagen«, meinte ich und erhob mich. Tolliver beeilte sich
ebenfalls aufzustehen. »Dürfen wir die Stadt verlassen?«, fragte ich. »Wenn uns
danach zumute ist?«
»Solange Sie
uns sagen, wie wir Sie erreichen können, dürfen Sie und Ihr Bruder abreisen«,
sagte Stuart. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie froh er wäre, uns los
zu sein.
»Ich bin
nicht ihr Bruder«, sagte Tolliver. Er klang so wütend, als hätten sie sich
die ganze letzte Stunde nur gestritten.
Stuart
wirkte überrascht. »Ganz wie Sie meinen«, sagte er achselzuckend. »Sie dürfen
beide gehen.«
Ich war
dermaßen erstaunt über Tollivers Wutausbruch, dass ich Mühe hatte, meine
Handtasche zu greifen und ihm zu folgen. Er verschwand beinahe in einer
Staubwolke, so schnell rannte er aus dem Revier. Da ich mich zunächst mühsam
durch die Türen manövrieren musste, holte ich ihn erst am Auto ein. Er hatte
die Hände auf die Motorhaube gestützt und starrte auf den grauen Lack. Die
übrig gebliebenen Reporter riefen uns etwas zu, aber wir ignorierten sie.
Ich wusste
nicht, was ich sagen sollte. Ich stand einfach nur da und wartete. Ich wäre in
den Wagen gestiegen, aber er hatte die Autoschlüssel. Der Nebel wurde dichter,
so dass es beinahe nieselte. Ich fühlte mich schrecklich.
Endlich
richtete er sich auf und entriegelte wortlos die Türen. Ich trat vom
Bürgersteig, öffnete die Beifahrertür, stieg ein und zog sie wieder hinter mir
zu. Gott sei Dank war es mein linker Arm, der in Mitleidenschaft gezogen war.
Tolliver beugte sich, weiterhin schweigend, über mich, um mich anzuschnallen.
»Wohin
jetzt?«, fragte er.
»Zum Arzt.«
»Hast du
Schmerzen?«
»Ja.«
Er holte
tief Luft und atmete aus. »Es tut mir leid«, sagte er, wobei er offen ließ, was
genau ihm leidtat.
»Ist schon
gut«, sagte ich, ohne zu wissen, was eigentlich los war. Ich hatte ein paar
Vermutungen, von denen mir ein paar durchaus Angst einjagten.
Tolliver
hatte die Arztpraxis bereits auf einer seiner Fahrten zum und vom Krankenhaus
ausfindig gemacht. Dr. Thomasons Praxis war ein kleiner roter Ziegelbau, aber
auf dem Parkplatz standen mindestens sechs Autos. Ich stellte mich beim
Hineingehen auf eine längere Wartezeit ein. Der Mann, der nicht mein Bruder
war, ging zur Rezeption und erklärte der Frau dahinter, wer ich war, und dass
ich den Arzt in der Notaufnahme kennengelernt hatte.
»Wir werden
sie dazwischenschieben müssen, Schätzchen, das kann ein Weilchen dauern«, sagte
sie und schob ihre Brille zurück auf die Nasenwurzel. Dann fasste sie sich
vorsichtig an ihre mit viel Spray fixierte Helmfrisur, vermutlich um zu
überprüfen, ob sie noch richtig saß. Tolliver versprühte wieder seinen üblichen
Charme. Er kam mit einem Klemmbrett und Formularen zurück, die ich ausfüllen
musste.
»Wie es
aussieht, haben wir jede Menge Zeit dafür«, konnte er sich nicht verkneifen mir
zuzuzischen. Ich saß auf einem blauen Plastikstuhl an der Wand, und er leistete
mir Gesellschaft. Mit uns im Wartezimmer saßen eine junge Mutter und ihr Baby,
das selig schlief, ein älterer Mann mit einer Gehhilfe und ein ausgesprochen
nervöser Teenager aus dem Stamme der Fußwipper.
Eine
Arzthelferin in Seegrün trat in die Tür und rief: »Sallie und Laperla!« Die
junge Mutter, die selbst kaum älter als ein Teenager war, stand mit der
Babytragetasche auf.
»Ob sie
weiß, dass La Perla eine Dessousfirma ist?«, flüsterte ich
Tolliver zu, entlockte ihm damit aber nur die Spur von einem Lächeln.
Der Junge
rutschte so nahe an uns heran, dass eine Unterhaltung möglich war. »Sie sind
die Frau, die die Leichen gefunden hat«, sagte er.
Wir sahen
ihn beide an. Ich nickte.
Jetzt, wo er
mir gesagt hatte, wer ich war, suchte er verzweifelt nach neuem Gesprächstoff.
»Ich kannte sie alle«, sagte er schließlich. »Lauter
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