Harper Connelly 04 - Grabeshauch
das Sagen hatte. Es war nicht schwer zu erraten, wem Rich Joyce am meisten vertraut hatte.
Ob Rich Joyce gewusst hatte, dass sich seine Enkelin für Übernatürliches interessierte oder schlichtweg das Besondere liebte?
Deshalb also hatte Lizzie uns auf den Pioneer Rest Cemetery geführt, und deshalb stand ich jetzt hier und wartete auf ihr
Signal zum Loslegen.
Die eigensinnige Lizzie wollte was sehen für ihr Geld, also würde sie mich nicht gleich zum Grab ihres Großvaters führen.
Sie hatte mich nicht einmal über den Sinn und Zweck meiner Suche unterrichtet, bevor ich vor einer halben Stunde aus meinem
Wagen gestiegen war. Natürlich konnte ich hier herumspazieren und alle Grabinschriften lesen, bis ich auf eine mit den passenden
Daten stieß. So viele Joyces lagen hier auch nicht unter der Erde. Aber ich würde die Sache trotzdem etwas in die Länge ziehen
und ihr ein paar Gratisdarbietungen geben, da sie bei meinem Honorar nicht mit der Wimper gezuckt hatte.
Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und musste aufpassen, wo ich hintrat. In Texas verstecken sich Dornen im Gras, auch wenn
es noch so schön aussieht. Ich warf einen letzten Blick auf das Panorama aus sanften Hügeln und Bäumen. Der kleine Friedhof
hätte ebenso gut auf dem Mond liegen können, so stark war der Kontrast zu den dicht besiedelten Landstrichen und wohlgeordneten
Kleinstädten, die wir auf dem Weg zu unserem letzten Auftrag in North Carolina passiert hatten. Dort waren wir zwar in einem
kleinen Kaff gewesen, aber ich hatte mich dort nie so isoliert gefühlt wie hier indieser Landschaft. Man hatte stets gewusst, dass der nächste Ort nur eine kurze Autofahrt entfernt war.
Aber wenigstens war es hier nicht ganz so kalt, wir konnten davon ausgehen, dass es nicht schneien würde. Meine Füße prickelten
in der kühlen Luft, aber nicht so, wie ich im eis- und nasskalten North Carolina am ganzen Körper gefroren hatte.
Die Joyces waren in der Nähe der alten Eiche bestattet worden. Ich entdeckte einen großen Felsbrocken, der auf einer Seite
poliert worden war. Dort hatte man in riesigen Buchstaben den Namen Joyce eingraviert. Es hätte doch etwas zu naiv gewirkt,
diesen Hinweis zu ignorieren. Ich blieb am ersten Grab dieser Familiengruft stehen, obwohl es eindeutig nicht das war, weswegen
ich hier war. Aber egal, irgendwo musste ich schließlich anfangen. Auf dem Grabstein stand:
Hier ruht Sarah, die geliebte Ehefrau von Paul Joyce
. Ich atmete tief durch und betrat das Grab. Sofort war ich wie elektrisiert und nahm Verbindung zu den Gebeinen unter meinen
Füßen auf. Sarah wartete wie alle Verstorbenen, und zwar unabhängig davon, ob sie schon lange tot oder erst seit Kurzem verstorben
sind, ordnungsgemäß bestattet oder wie Müll weggeworfen wurden. Ich spürte mit meiner besonderen Gabe tief in die Erde hinab.
Stellte einen Kontakt her. Hörte zu.
»Eine Frau um die sechzig, ein geplatztes Aneurysma«, sagte ich. Ich öffnete die Augen und betrat das nächste Grab. Dieses
hier war älter, deutlich älter. »Hiram Joyce«, sagte ich. Ich stand da und versuchte, die wenigen noch verbliebenen Knochen
unter meinen Füßen zu erreichen. »Eine Blutvergiftung«, sagte ich schließlich. Ich ging zu dem Grab daneben und blieb einen
Moment stehen, bis mich das Summen erfasste: Das war der Ruf der Gebeine, der sterblichen Überreste. Sie wollten, dass ich
erfuhr, woran sie gestorben waren,wie ihr letztes Stündlein ausgesehen hatte. Ich warf einen Blick auf den Grabstein. Man muss das Rad schließlich nicht neu
erfinden.
Das hier war kein Mitglied der Familie Joyce, obwohl es in ihrer Gruft beerdigt worden war. Das Sterbedatum lag acht Jahre
und ein paar Monate zurück. Die Grabinschrift lautete
Mariah Parish
. Obwohl ich spürte, dass sich die beiden Männer, die im kümmerlichen Schatten eines verkrüppelten Baumes warteten, plötzlich
aufrichteten, war ich zu sehr darauf konzentriert, Kontakt aufzunehmen, um mir darüber Gedanken zu machen.
»Oh«, sagte ich leise. Der Wind zerzauste mein dunkles kurzes Haar und zerrte daran. »Oh, die Ärmste.«
»Wie bitte?«, fragte Lizzie, deren raue Stimme einfach nur verwirrt klang. »Das war die Pflegerin meines Großvaters. Sie hatte
einen Blinddarmdurchbruch oder so was Ähnliches.«
»Sie hat viel Blut verloren, ist nach der Geburt eines Kindes gestorben«, sagte ich. Ich zählte zwei und zwei zusammen und
sah zu den beiden Männern hinüber.
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