Harpyien-Träume
könntest…«
»Das tu ich gern.«
Und so schlief Cynthia in dem weichen Heu und gewöhnte sich langsam an ihren neuen Körper. Der Pferdeteil bereitete keine Probleme, aber sie brauchte doch eine Weile, bis sie den menschl i chen Teil bequem gebettet hatte, weil er nicht mehr flach liegen konnte, wie es früher der Fall gewesen war. Schließlich stützte sie ihn an der Wand ab und legte den Kopf auf die verschränkten Oberarme. Am Morgen kämmte sie sich ein paar Knoten aus dem Haar und wusch sich das Gesicht. Sie wünschte sich, sie könnte ihr Hemd wechseln, aber es war das einzige, das sie hatte. Sie wußte zwar, daß Zentauren normalerweise barbrüstig umherliefen, aber sie brachte es nicht fertig, sich derart zur Schau zu stellen.
Der nette Bauer brachte ihr eine Schüssel Murrpudding. Dann holte er den Jungen, der etwa sechs Jahre alt zu sein schien.
»Das ist Wryly«, sagte der Bauer. »Wryly, das ist Cynthia Zentaur, die auf dich aufpassen wird, während ich weg bin.«
»Oh, eine Zentaurin!« sagte der Junge erfreut. »Auf der werde ich herumreiten!«
Daran hatte Cynthia noch gar nicht gedacht. Die Vorstellung g e fiel ihr nicht besonders. »Später vielleicht«, meinte sie.
»Sieh mal, ob du mit ihm zurecht kommst«, warf der Bauer ein.
Cynthia setzte ihr Talent ein. Doch sie merkte rasch, daß hier i r gend etwas nicht stimmte. Wryly änderte sich nicht; er wirkte i m mer noch so spitzbübisch wie zuvor. Dafür schien der Bauer plöt z lich wegzudämmern. Seine Kieferlade erschlaffte, und die Augen bekamen einen starren Blick.
Cynthia fuhr mit der Hand vor seinem Gesicht auf und ab. Nichts.
Sie begann sich Sorgen zu machen. Sie legte die Hände auf seine Schultern und schüttelte ihn. »Wach auf!«
Der Bauer blinzelte, erst einmal, dann ein zweites Mal, um s i cherzugehen. »W-wo bin ich?« stammelte er.
»Du bist in deiner Scheune und willst gerade ins Dorf«, erinnerte Cynthia ihn.
Er blickte sich verdutzt um; dann schritt er in der ungefähren Richtung seines Hauses davon. Der Junge, den das ganze Gesch e hen langweilte, griff sich in die Tasche und holte etwas hervor, das so aussah wie der Rest seines Abendbrots aus Huhn und Murr. Er kaute darauf, während er sich überlegte, wie er etwas Gemeines anstellen konnte.
Für ein Mädchen war Cynthia gar nicht dumm, obwohl sie nicht sicher war, ob sie auch einen Vergleich mit einem weiblichen Ze n taurenfohlen standgehalten hätte. Sie schätzte die Lage ab. Als sie versucht hatte, ihr Talent auf den Bengel anzuwenden, war dessen Vater in einen Tran verfallen. Eine matte Birne blitzte über ihrem Kopf auf.
»Oh, nein!« rief sie und legte eine Hand auf ihre hübsche Wange. »Mein Talent – es hat sich umgekehrt! Jetzt beneble ich damit E l tern!«
Sie begriff, daß das Talent des Jungen das ihre beeinträchtigt ha t te. Es war schiefgegangen.
Sie rannte hinter dem Bauern her, der langsam wieder zu sich kam. »Ich kann mein Talent nicht auf deinen Sohn anwenden«, sagte sie. »Es versagt! Aber ich glaube, ich kann trotzdem auf ihn aufpassen, solange du im Dorf bist. Aber danach werde ich mich wieder auf den Weg machen müssen.«
Er nickte. So etwas war er gewöhnt. »In der Küche steht Mur r pudding zum Mittagessen«, sagte er. »Ich komme zurück, sobald ich kann.«
Es erwies sich als wahre Plackerei, Wryly daran zu hindern, alle möglichen Schandtaten zu begehen, doch irgendwie schaffte sie es, auch ohne ihr nutzlos gewordenes Talent einzusetzen. Und es g e lang ihr auch, noch vor Rückkehr des Bauern den größten Teil des Puddings aufzuwischen, mit dem der Junge um sich geschmissen hatte. Sie fand sogar genug Wasser, um das Feuer zu löschen, b e vor die Scheune abbrannte. Aber es gab keinen Zweifel – es war an der Zeit, sich auf den Weg zu machen. Der Junge war einfach zu sehr darauf erpicht, sein Talent auszuleben, und das hätte fr ü her oder später Cynthias Tod bedeuten können.
»Weißt du, wenn du nach einem Ort suchst, wo du ein wenig aus dem Verkehr gezogen bist«, meinte der Bauer, »warum versuchst du es nicht im Teich der Gehirnkoralle?«
»Wo?«
Er erklärte ihr, daß es tief in der Unterwelt eine intelligente K o ralle geben solle, die in einem Teich lebte und Dinge sammelte. »Wie ich gehört habe, ist das keine böse Kreatur«, schloß er. »Sie möchte nur die Dinge eine Weile behalten, um sie später wieder freizugeben. Vielleicht könntest du dich ja solange dort aufhalten, bis die Leute dich vergessen
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