Harpyien-Träume
ließ.
Cynthia war in so gut wie jeder Hinsicht ein ganz durchschnittl i ches Menschenmädchen (wenn auch vielleicht ein bißchen hü b scher als die meisten, wie sie zu glauben versucht war), das der Storch vor knapp sechzehn Jahren einer netten Familie im Nor d dorf gebracht hatte. Ihr magisches Talent war bescheiden, aber nützlich: Sie kam ganz erstaunlich gut mit Kindern zurecht. Sie benutzte diese Magie, um andere Leute durch Babysitten glücklich zu machen. Wenn die Eltern der Kinder fort waren, war Cynthia, wie ein Zentaur es einmal ausdrückte, ›in loco parentis‹; das war sein Ausdruck für ein Ersatzelternteil. Oder, wie die Kinder es ausdrückten: ›Verrückte Seh-Seh!‹ Womit sie nur ausdrücken wol l ten, daß Cynthia Spaß machte und schön anzuschauen war.
Doch in Xanth stand nicht alles zum besten. Der Sturmkönig achtete nicht genau auf das Wetter, so daß an manchen Tagen die örtlichen Kissensträucher dermaßen austrockneten, daß ihre F e derfüllung herausleckte und davonwehte, während es an anderen Tagen so stark regnete, daß die Kissen alle naß und schwammig wurden. Inzwischen kam die Kunde vom Bösen Magier Trent, der Unheil anrichtete und versuchte, die derzeitige Monarchie zu stü r zen. Obwohl Cynthia nicht allzu viel dafür übrig hatte, wie der Sturmkönig das Königreich regierte, war sie sich doch so gut wie sicher, daß sich durch eine feindselige Übernahme nichts bessern würde.
Cynthia begab sich an den Rand eines ruhigen Sees, um ihr braunhaariges und braunäugiges Spiegelbild zu bewundern, wie man es von hübschen Mädchen ihres Alters erwartete. Sie bemer k te eine Plauderschlinge, die in der Nähe des Wassers wuchs, und ging darauf zu. Plauderschlingen waren sehr tratschige Pflanzen, berüchtigt für ihre Neuigkeiten über Dinge, die rechtschaffene Leute eigentlich nichts angingen, weshalb ihnen natürlich niemand zuhörte. Aber Cynthia war zufällig allein, so daß es niemand erfa h ren würde. Also gab sie der Versuchung nach und legte ein Ohr an die Schlinge.
»Der gräßliche Böse Magier nähert sich dem Norddorf und te r rorisiert die Bewohner«, ergoß die Plauderschlinge ihre purpurne Prosa in Cynthias zartes, muschelrosa Ohr. »Wer soll diese mons t röse Invasion aufhalten, bevor es zu spät ist?«
Oh, das war aber wirklich eine schlimme Nachricht! Cynthia war ganz und gar dagegen, daß der Böse Magier ihr friedliches Dorf mit seinen üblen Transformationen heimsuchte. Sie mußte ihn aufhalten! Leider hatte sie nicht die leiseste Vorstellung, wie sie das tun sollte. Vielleicht konnte sie ihn abfangen und versuchen, ihn zu übereden, das Dorf in Frieden zu lassen. Sie war schließlich eine einfallsreiche Maid mit einem ausgeprägten Talent, was den U m gang mit Kindern betraf. Bestimmt würde ihr etwas einfallen, um dem kindischen Verhalten des Bösen Magiers einen Riegel vorz u schieben. Hoffte sie jedenfalls.
Eines Tages, als sie gerade Laberrosen pflückte, sah sie ihn kommen. Sie wußte, daß er es war, weil sie zufällig mitbekam, wie er gerade einen Schmetterling in einen rosa Elefanten verwandelte. Der Elefant schien alles andere als glücklich über diese Transfo r mation zu sein; er trompetete eine blecherne Melodie und trabte davon, wobei er mit den Ohren flatterte, als wären es Flügel. Das war ein eindeutiges Zeichen von Magie. Also machte sie sich da r an, den Mann abzufangen, bevor er an ihr vorbeigegangen war.
Plötzlich stand sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie öffnete den Mund, um ihre Vorhaltungen von sich zu geben, als ihr Blick den seinen traf.
Und dann stockte sie wie betäubt.
Nicht seiner Magie wegen. Nein, wegen seines attraktiven G e sichts und seines allgemein guten Aussehens. Sie hatte angeno m men, daß er häßlich sein müsse, oder wenigstens unansehnlich. Vielleicht auch gebeugt, hinkend und mit einer Hasenscharte. Doch er sah geradezu göttlich aus, sehr groß und aufrecht und mit ebenmäßigen Gesichtszügen.
»Ich grüße dich, schöne Maid«, sagte er. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Ich, äh… weiß nicht genau«, stammelte sie und genoß die Wärme seines anziehenden Blicks. Die Rosen fielen ihr aus den schlaffen Fingern und laberten hastig davon, wie es ihre Art war. Cynthias Verstand schien ihnen zu folgen.
Der Magier beugte sich vor, um ihr beim Einsammeln ihres Verstandes zu helfen. »Dann gestatte mir, mich vorzustellen«, sa g te er, als er ihr ihn überreichte. »Ich bin der
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