Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
»der schon mehrmals seinen Blutdurst offenbart hat. Ein Cowboy, der vor und nach dem Tod des unbewaffneten Mr. Church tötete. Ein Mann, der zuerst schießt und später nach Beweisen sucht. Ein Mann, der ein tief verwurzeltes Motiv hatte, einen Mann umzubringen, den er für einen Serienmörder von Frauen hielt, von Prostituierten – wie seine eigene Mutter.«
Sie ließ den letzten Satz eine Weile in der Luft hängen, während sie so tat, als sähe sie ihre Notizen durch.
»Wenn Sie in das Beratungszimmer gehen, werden Sie entscheiden müssen, ob Sie solche Polizisten in Ihrer Stadt wollen. Die Polizei sollte ein Spiegel der Gesellschaft sein, die sie beschützt. Die Polizisten sollten ein Beispiel für das Beste in uns sein. Stellen Sie sich die Frage, wofür ist Harry Bosch ein Beispiel? Welchen Teil unserer Gesellschaft repräsentiert er? Wenn die Antworten auf diese Fragen Sie nicht beunruhigen, dann entscheiden Sie zugunsten des Beklagten. Wenn Sie Ihre Besorgnis erwecken, wenn Sie glauben, unsere Gesellschaft verdient etwas Besseres, als das kaltblütige Erschießen eines möglichen Verdächtigen, dann haben Sie keine Wahl, Sie müssen ein Urteil zugunsten der Klägerin fällen.«
Chandler machte eine Pause und ging zu ihrem Tisch, um sich ein Glas Wasser einzugießen. Belk lehnte sich zu Bosch hinüber und flüsterte: »Nicht schlecht, aber ich hab’ sie schon mal besser erlebt … auch schon mal schlechter.«
»Als sie schlechter war«, flüsterte Bosch zurück, »hat sie da gewonnen?«
Belk schaute auf seinen Block und gab so die Antwort. Als Chandler wieder zum Pult zurückkehrte, wandte er sich wieder zu Bosch.
»Das ist ihre Routine. Jetzt wird sie aufs Geld zu sprechen kommen. Nach dem Glas Wasser spricht Money über Geld.«
Chandler räusperte sich und fuhr fort.
»Sie zwölf haben eine seltene Gelegenheit. Sie sind in der Lage, etwas in der Gesellschaft zu verändern. Nicht viele Menschen bekommen diese Chance. Wenn Sie der Ansicht sind, daß Detective Bosch falsch handelte und für die Klägerin entscheiden, werden Sie etwas ändern, weil Sie ein Zeichen setzen, eine Botschaft für jeden Polizisten in der Stadt. Vom Chief und der Polizeileitung im Parker Center, zwei Block von hier, bis zum letzten Polizeianwärter auf der Straße. Sie werden ihnen erklären, daß Sie so etwas nicht dulden und akzeptieren. Wenn Sie zu diesem Urteil gekommen sind, müssen Sie die finanzielle Entschädigung festsetzen. Das ist keine schwierige Aufgabe. Schwierig war der erste Teil – zu entscheiden, ob Detective Bosch richtig oder falsch handelte. Der Schadensersatz kann einen Dollar betragen, eine Million oder mehr. Das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist das moralische Zeichen. Mit diesem Zeichen lassen Sie Norman Church Gerechtigkeit widerfahren. Und seiner Familie.«
Bosch drehte sich um und sah Bremmer auf den Zuschauerbänken bei den anderen Reportern. Bremmer grinste verschlagen, und Bosch schaute wieder nach vorne. Der Reporter hatte exakt vorausgesagt, wie Money an ihr eigenes Geld dachte.
Chandler ging wieder zum Tisch der Klägerseite, hob ein Buch auf und kehrte zum Pult zurück. Es war alt und ohne Schutzumschlag, sein grüner Rücken rissig. Bosch glaubte, ein Mal auf dem Papier der Seiten zu erkennen, wahrscheinlich ein Bibliotheksstempel.
»Abschließend«, sagte sie, »möchte ich eine Frage ansprechen, die Sie vielleicht haben. Es ist eine Frage, die ich sicher hätte, wäre ich an Ihrer Stelle: Wie konnte es dazu kommen, daß wir Menschen wie Detective Bosch als Polizisten haben? Nun, ich glaube nicht, daß wir die Frage beantworten können, und darum geht es auch nicht in diesem Prozeß. Wie Sie sich erinnern werden, zitierte ich den Philosophen Nietzsche am Anfang der Woche. Ich las Ihnen seine Worte über den dunklen Ort, den er den Abgrund nannte, vor. Paraphrasiert sagte er, wir müssen acht geben, daß die Leute, die die Ungeheuer bekämpfen, nicht selbst zu Ungeheuern werden. In der heutigen Gesellschaft hat man sich daran gewöhnt, daß es Monster gibt. Und daher ist es nicht schwer zu glauben, daß auch ein Polizist zu einem Monster wird. Nachdem wir gestern hier fertig waren, verbrachte ich den Abend in der Bücherei.«
Bei diesen Worten sah sie dreist zu Bosch hinüber. Er hielt dem Blick stand und unterdrückte den Impuls wegzuschauen.
»Und ich möchte Ihnen zum Abschluß etwas vorlesen. Ich entdeckte, daß Nathaniel Hawthorne über das schrieb, womit wir uns
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