Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
heute befassen. Die dunkle Kluft, wo es leicht ist, zur Seite des Bösen überzuwechseln. In seinem Roman Der Marmorfaun schreibt Hawthorne: ›Die Spalte ist nur eine der Öffnungen der schwarzen Gruft, die sich unter uns ausdehnt – überall.‹
Meine Damen und Herren, beraten Sie sich gewissenhaft und bleiben Sie Ihrem Moralgefühl treu. Ich danke Ihnen.«
Es war so still, daß Bosch ihre Absätze auf dem Teppich hören konnte, als sie zu ihrem Platz ging.
»Liebe Leute«, sagte Richter Keyes, »wir machen fünfzehn Minuten Pause, und dann hat Mr. Belk das Wort.«
Als sie sich für die Jury erhoben hatten, flüsterte Belk: »Ich kann’s kaum glauben, daß sie das Wort Spalte in ihrem Schlußplädoyer verwendet hat.«
Bosch sah ihn an. Belk schien sich hämisch zu freuen, aber Bosch begriff, es war der Versuch, irgendeinen Fehler zu finden, um sich überlegen zu fühlen, um sich für seinen Auftritt aufzupeitschen. Bosch wußte, egal was für Wörter sie benutzt hatte, Chandler war verdammt gut gewesen. Er musterte den schwitzenden, fetten Mann neben sich und fühlte kein bißchen Zuversicht.
Während der Pause begab sich Bosch nach draußen zur Statue der Gerechtigkeit und rauchte zwei Zigaretten, aber Honey Chandler erschien nicht. Tommy Faraway kam jedoch vorbei und schnalzte anerkennend mit der Zunge, als er die fast vollständige Zigarette entdeckte, die sie in den Sand des Kübels gesteckt hatte. Dann ging er weiter, ohne etwas zu sagen. Bosch fiel ein, daß er nie gesehen hatte, wie Tommy Faraway eine der gesammelten Kippen rauchte.
Belk überraschte Bosch mit seinem Plädoyer. Es war gar nicht mal so schlecht. Das Problem war nur, daß er nicht die gleiche Klasse wie Chandler hatte. Er bezog sich hauptsächlich auf Chandlers Argumente, statt unabhängig von ihrem Plädoyer die Unschuld seines Mandanten und die Ungerechtigkeit der Anschuldigungen zu beteuern. Er sagte zum Beispiel: »Ms. Chandler vergaß bei Ihren Ausführungen zu zwei möglichen Urteilsentscheidungen ganz, daß es noch eine dritte Möglichkeit gibt. Nämlich, daß Detective Bosch richtig, intelligent und korrekt handelte.«
Das erzielte Punkte für die Verteidigung, war jedoch auch zweischneidig, da damit zugestanden wurde, daß die beiden anderen Urteile möglich waren. Belk bemerkte das nicht, aber Bosch. Der städtische Anwalt gab der Jury damit drei Entscheidungsmöglichkeiten statt zwei, und nur eine sprach Bosch frei. An manchen Stellen hätte er Belk am liebsten wieder an den Tisch gezerrt und sein Plädoyer neu formuliert. Aber er konnte nicht. Er mußte sich zusammenkauern wie in den Tunnels in Vietnam, wenn Bomben oben einschlugen, und hoffen, daß sie standhielten.
In der Mitte seines Plädoyers konzentrierte sich Belk auf die Beweise, die Church mit den neun Morden in Verbindung brachten. Er betonte wieder und wieder, daß Church das Ungeheuer in dieser Geschichte sei, nicht Bosch, und daß die Beweislage dies deutlich unterstütze. Er wies die Geschworenen darauf hin, daß der Umstand, daß ähnliche Morde weiter geschehen waren, nichts damit zu hatte, was Church getan und wie Bosch gehandelt hatte.
Am Ende seiner Ausführungen lief Belk zu seiner besten Form auf. Unverfälschter Zorn schwang in seiner Stimme mit, als er Chandlers Charakterisierung, daß Bosch fahrlässig und ohne Rücksicht auf Menschenleben gehandelt hätte, kritisierte.
»Die Wahrheit ist, daß Detective Bosch nur in Sorge um Menschenleben handelte, als er die Tür eintrat. Sein Handeln entsprang aus der Sorge, daß eine andere Frau, ein anderes Opfer, sich dort befände. Detective Bosch hatte nur eine Wahl. Er mußte in die Wohnung, die Situation unter Kontrolle bringen und die Konsequenzen auf sich nehmen. Norman Church wurde getötet, als er den wiederholten Befehlen eines Polizisten zuwiderhandelte und unter das Kissen griff. Er machte den Zug, nicht Bosch, und er mußte dafür mit seinem Leben bezahlen.
Aber versetzen Sie sich in Bosch’ Lage. Können Sie sich vorstellen, dort zu sein? Allein? In Furcht? Nur wenige Menschen bestehen in dieser Situation, ohne mit der Wimper zu zucken. Unsere Gesellschaft hat für sie einen Namen: Helden. Ich glaube, wenn Sie ins Beratungszimmer gehen und die Fakten, nicht die Anschuldigungen, sorgfältig erwägen, werden Sie zu dem gleichen Urteil kommen. Vielen Dank.«
Bosch konnte es kaum fassen, daß Belk das Wort Held in seinem Plädoyer benutzt hatte, entschied aber, dem beleibten Anwalt nichts
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