Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
aus persönlichen Motiven die fünfzehnminütige Pause am Nachmittag vergessen, während der er wohl ausreichend Zeit hatte, seinem Anwalt diese wichtige Information mitzuteilen.«
Der Richter sah Bosch an.
»Ich wollte es ihm in der Pause berichten, aber Mr. Belk sagte, er brauche die Zeit, um sich auf sein Eröffnungsplädoyer vorzubereiten.«
Der Richter musterte ihn ein paar Sekunden lang kritisch, ohne etwas zu sagen. Bosch war klar, daß der Richter merkte, wie sehr er die Wahrheit zurechtgeschneidert hatte. Richter Keyes war dabei, eine Entscheidung zu fällen.
»Nun, Ms. Chandler«, sagte er endlich. »Ich kann hier keine Verschwörung entdecken und werde die Sache auf sich beruhen lassen mit der Warnung, daß das Zurückhalten von Beweisen das schlimmste Verbrechen ist, welches man vor Gericht begehen kann. Falls ich Sie dabei ertappe, werden Sie wünschen, Sie hätten nie die Aufnahmeprüfung fürs Jurastudium gemacht. Also, sprechen wir nun über diese neue Entwicklung?«
»Euer Ehren«, sagte Belk schnell und ging zum Rednerpult. »In Anbetracht dieses Fundes vor weniger als vierundzwanzig Stunden, beantrage ich eine Aussetzung des Prozesses, so daß diese Situation gründlich untersucht und exakt festgestellt werden kann, welche Bedeutung sie für diesen Prozeß hat.«
Endlich zeigt er Interesse dafür, dachte Bosch. Ihm war jedoch klar, daß es für eine Verfahrensaussetzung zu spät war.
»Oho!« sagte Richter Keyes. »Wie denken Sie darüber, Ms. Chandler?«
»Keine Aussetzung, Euer Ehren. Die Familie hat vier Jahre auf diesen Prozeß gewartet. Eine Aussetzung würde das Verbrechen nur noch länger ungesühnt lassen. Und wer soll nach Mr. Belks Meinung die Sache untersuchen, Detective Bosch?«
»Ich bin sicher, daß der Verteidiger mit einer Untersuchung durch die Polizei von Los Angeles einverstanden wäre«, sagte der Richter.
»Ich aber nicht.«
»Das dachte ich mir, Ms. Chandler. Aber darüber sollten Sie sich eigentlich keine Sorgen machen. Gestern sagten Sie selbst, daß die große Mehrheit der Polizisten in dieser Stadt gut und kompetent sei. Sie müssen sich halt einfach nach Ihren eigenen Worten richten … Aber ich werde den Antrag auf Verfahrensaussetzung ablehnen. Wir haben den Prozeß begonnen und wir werden ihn nicht unterbrechen. Die Polizei wird und kann diese Angelegenheit untersuchen und das Gericht informieren. Aber ich werde nicht warten. Der Prozeß wird bis zu dem Zeitpunkt weitergeführt, wo diese Angelegenheit eventuell erneut besprochen werden muß. Sonst noch etwas? Die Jury wartet.«
»Was ist mit dem Zeitungsartikel?« fragte Belk.
»Was soll damit sein?«
»Euer Ehren. Ich möchte, daß die Geschworenen befragt werden, ob sie ihn gelesen haben. Außerdem sollten sie noch einmal angewiesen werden, weder Zeitung zu lesen noch Nachrichten zu sehen. Die Fernsehstationen werden sicher die Times- Story weiterverfolgen.«
»Ich habe die Jury schon gestern dahingehend instruiert, werde sie aber trotzdem befragen. Je nachdem, was sie sagen, können wir sie wieder hinausschicken, und über Prozeßabbruch reden.«
»Ich will keinen Abbruch«, sagte Chandler. »Das will der Verteidiger. Uns würde das um zwei Monate zurückwerfen. Die Familie hat schon vier Jahre auf Gerechtigkeit gewartet. Sie …«
»Warten wir erst mal ab, was die Jury sagt. Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Ms. Chandler.«
»Euer Ehren, dürfte ich etwas zu Maßregelungen sagen?«
»Das ist wohl nicht nötig, Mr. Belk. Ich habe den Antrag auf Maßregelung abgelehnt. Was gibt’s da noch zu sagen?« ’
»Ich weiß, Euer Ehren. Ich beantrage aber Maßregelung für Miss Chandler. Sie hat mich durch den Vorwurf der angeblichen Beweisunterdrückung verleumdet, und ich …«
»Mr. Belk, setzen Sie sich. Ich sage Ihnen jetzt beiden, unterlassen Sie Ihr kindisches Gezänk. Sie werden damit bei mir nichts erreichen. Beiderseits keine Maßregelung. Ein letztes Mal, weitere Punkte?«
»Ja, Euer Ehren«, sagte Chandler.
Sie hatte noch eine Trumpfkarte. Unter ihrem Block zog sie ein Dokument hervor und gab es der Gerichtsdienerin, die es dem Richter weiterreichte. Dann kehrte Chandler zum Pult zurück.
»Euer Ehren, das ist der Antrag auf Herausgabe eines Beweisstückes, den ich der Polizei gerichtlich zustellen werde und der ins Protokoll aufgenommen werden soll. Ich beantrage darin, die Überstellung einer Kopie des Briefes, der in der Times erwähnt wird, – des Briefes, der vom Puppenmacher
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