Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
zu verstehen geben konnte, wer ihn aufs Korn genommen hatte.
Als wir zum Splendid Age zurückkamen, ließ ich Sugar Ray auf dem Beifahrersitz weiterdösen, während ich nach drinnen ging, um den Pförtner zu holen. Als ich ihn vor dem Baked Potato in den Mercedes gepackt hatte, war ich auf mich selbst gestellt gewesen.
Ich rüttelte ihn behutsam wach, und dann hoben wir ihn auf den Bürgersteig. Wir führten ihn nach drinnen und dann den Flur hinunter in sein Zimmer. Als er schließlich auf dem Bett saß und den Schlaf abzuschütteln versuchte, fragte er mich, wo ich gewesen sei.
»Ich war die ganze Zeit bei dir, Sugar Ray.«
»Übst du fleißig?«
»Jedes Mal, wenn ich dazu komme.«
Ich merkte, dass er unseren abendlichen Ausflug vielleicht bereits vergessen hatte. Möglicherweise dachte er, ich sei zum Unterricht gekommen. Er tat mir Leid, dass er der Erinnerung so früh beraubt wurde.
»Sugar Ray, ich muss los. Ich muss noch Verschiedenes erledigen.«
»Alles klar, Henry.«
»Harry.«
»Habe ich doch gesagt.«
»Ach, soll ich dir die Glotze anmachen, oder willst du gleich schlafen?«
»Nein, sei doch so gut und mach mir die Glotze an. Das wäre nett.«
Ich schaltete den Fernseher ein, der genau wie bei Lawton Cross an der Wand befestigt war. Er war auf CNN gestellt, und Sugar Ray sagte, ich solle ihn dort lassen. Ich ging zu ihm und drückte ihm die Schulter, und dann ging ich zur Tür.
»›Lush Life‹«, sagte er zu meinem Rücken.
Ich drehte mich zu ihm um. Er lächelte. ›Lush Life‹ war die letzte Nummer des Sets gewesen, den wir gehört hatten. Er erinnerte sich.
»Ein toller Song«, sagte er.
»Ja, finde ich auch.«
Ich überließ ihn seinen Erinnerungen an ein Leben in Saus und Braus und ging in die Nacht hinaus, um wegen eines gestohlenen Lebens einen König aufzusuchen. Ich war unbewaffnet, aber ohne Furcht. Ich befand mich im Zustand der Gnade. Ich hatte das letzte Gebet Angella Bentons dabei.
38
Kurz nach 22 Uhr ging ich auf den Eingang des Nat's zu, das etwa einen halben Block südlich des Hollywood Boulevard in der Cherokee Avenue lag. Es war noch früh, und es standen keine Leute davor, die darauf warteten, eingelassen zu werden. Es gab keine roten Absperrseile. Es gab keinen Türsteher, der entschied, wer reinkam und wer nicht. Es gab niemand, der den Eintritt kassierte. Es gab auch fast keine Gäste, als ich den Club betrat.
Ich war im Nat's oft in seiner früheren Inkarnation als einer Spelunke gewesen, in der Leute verkehrten, die dem Alkohol nicht weniger verfallen waren als irgendeinem anderen Aspekt des Lebens. Es war kein Aufreißerschuppen gewesen – außer man zählte die Prostituierten, die an der Bar auf Beute lauerten. Es war kein Ort, um Prominente zu beobachten. Es war ein Ort, um zu trinken, und damit war auch schon sein ganzer Daseinszweck erfasst, und als solcher hatte der Laden auch Charakter. Als ich das Lokal jetzt betrat und das ganze blitzende Messing und edle Holz sah, wurde mir klar, dass das, was es jetzt hatte, Glamour war, und das war nie dasselbe oder auch so dauerhaft wie Charakter. Da spielte es keine Rolle, wie viel Menschen am Eröffnungsabend Schlange gestanden hatten. Auf Dauer würde sich der Laden nicht halten. Das wurde mir in 15 Sekunden klar. Der Club war dem Untergang geweiht, bevor der erste Citron Martini geschüttelt, nicht gerührt, in sein beschlagenes Glas gegossen und auf eine schwarze Serviette gestellt wurde.
Ich steuerte direkt auf die Bar zu, an der drei Gäste waren, die aussahen wie Touristen aus Florida auf der Suche nach einer Dosis dringend benötigter kalifornischer Coolness. Die Barfrau war groß und dünn und trug die obligatorischen schwarzen Jeans und das enge Bodyshirt, das ihren Brustwarzen gestattete, sich den Gästen vorzustellen. Um ihren einen Bizeps schlängelte sich eine Schlange aus schwarzer Tusche, deren gespaltene rote Zunge an der Armbeuge leckte, in der die Einstichnarben nicht zu übersehen waren. Ihr Haar war kürzer als meines, und auf den Nacken hatte sie einen Strichcode tätowiert. Das erinnerte mich daran, wie sehr ich es am Abend zuvor genossen hatte, Eleanor Wishs Nacken zu erkunden.
»Der Eintritt beträgt zehn Dollar, aber darin ist ein Getränk enthalten«, sagte die Barfrau. »Was darf ich Ihnen bringen?«
Ich erinnerte mich daran, dass in dem Artikel von 20 Dollar Eintritt die Rede gewesen war.
»Wofür das denn? Der Laden ist doch wie ausgestorben.«
»Dafür, dass Sie hier
Weitere Kostenlose Bücher