Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
heraus.
Wie das bei einem Mord häufig der Fall ist, häuften sie ungeheure Mengen an Informationen über Angella Benton an, aber das entscheidende Detail, das sie auf die Identität ihres Mörders gestoßen hätte, war nicht darunter. Am Ende wussten sie, mit wem sie im College ins Bett gegangen war, aber nicht, wo sie den letzten Abend ihres Lebens verbracht hatte. Sie wussten, dass ihre letzte Mahlzeit etwas Mexikanisches gewesen war – die Maistortillas und Bohnen waren noch in ihrem Verdauungstrakt –, aber nicht, in welchem der Tausende mexikanischer Lokale von Los Angeles Benton sie zu sich genommen hatte.
Und selbst nach sechsmonatigen Ermittlungen fanden sie nicht die geringste Verbindung zwischen Angella Benton und dem Raubüberfall, sah man einmal von dem oberflächlichen Zusammenhang ab, dass sie als Produktionsassistentin für die Firma arbeitete, die den Film, in dem das Bargeld eine tragende Rolle spielen sollte, produziert hatte.
Sechs Monate intensivster Nachforschungen, und trotzdem waren sie keinen Schritt weitergekommen. Was sie an Beweisstücken hatten, waren die 46 Geschosse und Patronenhülsen, die nach der Schießerei geborgen werden konnten, das Blut aus dem Fluchtfahrzeug und das Sperma vom Tatort des Mordes. Das war alles nützliches Beweismaterial; mithilfe von Ballistik und DNS konnte man einen Verdächtigen zweifelsfrei mit einem Verbrechen in Verbindung bringen – außer er hatte Johnny Cochran als Anwalt. Aber dabei handelte es sich um die Sorte Beweismaterial, die das Sahnehäubchen auf dem Kuchen ist; die Sorte, die eine Tatwaffe mit einem Verdächtigen in Verbindung bringt, der bereits identifiziert und normalerweise inhaftiert ist. Nur ist so etwas keine große Hilfe, wenn es darum geht, diesen Verdächtigen zu kriegen. Nach sechs Monaten hatten sie das Sahnehäubchen, aber keinen Kuchen, um es darauf zu setzen.
Als sie schließlich nicht mehr weiterkamen, war der Zeitpunkt erreicht, an dem sie nach sechs Monaten eine Einschätzung der Erfolgsaussichten abgeben mussten. Das ist der Moment, in dem harte Entscheidungen getroffen werden. Die Aussichten der zwei Ermittler, den Fall zu lösen, wurden gegen die Notwendigkeit abgewogen, andere Fälle zu übernehmen und das Arbeitspensum der Kollegen mitzutragen. Dem Fall wurde der Vollzeitstatus entzogen, und Dorsey und Cross wurden von ihrem Vorgesetzten bei der RHD wieder für den regulären Dienst eingeteilt. Es wurde ihnen freigestellt, so oft und so intensiv wie möglich weiter am Fall Benton zu arbeiten, aber sie bekamen auch neue Ermittlungsverfahren zugeteilt. Wie nicht anders zu erwarten, litt der Fall Benton darunter. Das hatte Cross ganz offen zugegeben. Er sagte, sie hätten sich nur noch nebenher mit dem Fall beschäftigt, was vor allem Dorsey tat, während er, Cross, sich auf die neuen Fälle konzentrierte, die sie zugeteilt bekamen.
Als die beiden schließlich in Nat's Bar in Hollywood niedergeschossen wurden, wurde das Ganze amtlich. Der Fall Benton wanderte zu den OU-Akten. Offen-Ungelöst. Außerdem war er verwaist. Kein Ermittlungsbeamter ist über eine geerbte Akte begeistert, und nichts anderes war der Fall Benton. Niemand ist scharf darauf, sich eine Akte vorzunehmen und zu beweisen, dass sich die Kollegen getäuscht haben oder gar inkompetent oder faul waren. Zu diesem grundsätzlichen Manko kam noch, dass auf dem Fall Benton inzwischen fast so etwas wie ein Fluch lag. Polizisten sind ein abergläubisches Völkchen. Irgendwie war das Schicksal der zwei ursprünglichen Ermittler – einer tot, der andere auf Lebzeiten an den Rollstuhl gefesselt – unauflöslich mit den Fällen verknüpft, an denen sie gearbeitet hatten, ob nun ein direkter Zusammenhang bestand oder nicht. Niemand, und damit meine ich wirklich niemand, hätte danach den Fall Benton noch übernommen.
Außer mir. Jetzt, wo ich offiziell nicht mehr dazugehörte.
Außerdem musste ich mich vier Jahre später darauf verlassen, dass Cross und Dorsey bei ihren Ermittlungen über den Tod Angella Bentons und einen möglichen Zusammenhang mit dem Raubüberfall gute Arbeit geleistet hatten. An sich hatte ich auch gar keine andere Wahl. Noch einmal alles durchzuackern, was sie bereits bis zum Gehtnichtmehr abgegrast hatten, schien mir wenig sinnvoll. Aus diesem Grund suchte ich Taylor auf. Meine Strategie war, ihre Ermittlungen als gründlich, wenn auch nicht makellos zu betrachten und von einer anderen Seite an die Sache heranzugehen. Meine
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