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Harry Bosch 09 - Letzte Warnung

Harry Bosch 09 - Letzte Warnung

Titel: Harry Bosch 09 - Letzte Warnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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das Instrument zurück. Er war jedoch zu alt, um es noch spielen zu können. Seine Lungen brachten nicht mehr den nötigen Druck zustande.
    Trotzdem war richtig gewesen, was ich getan hatte. Es war, als brächte man einem Elternteil ein verlorenes Kind zurück. Er lud mich zum Weihnachtsessen ein. Wir blieben in Verbindung, und nachdem ich den Dienst quittiert hatte, kam ich mit einem Vorschlag zu ihm zurück, der verhindern sollte, dass sein Instrument Staub ansetzte.
    Weil er nicht wusste, wie man unterrichtete, war Sugar Ray ein guter Lehrer. Er erzählte mir Geschichten und erklärte mir, wie man das Instrument liebte, wie man ihm die Klänge des Lebens entlockte. Jeder Ton, den ich zum Erklingen bringen konnte, konnte eine Erinnerung und eine Geschichte wachrufen. Mir war klar, dass ich nie gut Saxophon spielen lernen würde, aber ich kam zweimal die Woche ins Splendid Age, um eine Stunde mit Sugar Ray zu verbringen und mir seine Geschichten über Jazz anzuhören und die Leidenschaft zu spüren, die er für seine unsterbliche Kunst immer noch hegte. Irgendwie gelangte sie in mich hinein und kam mit meinem eigenen Atem wieder heraus, wenn ich das Instrument ansetzte.
    Ich hob das Saxophon aus dem Koffer und setzte es an, um mit dem Spielen zu beginnen. Wir begannen jede Stunde damit, dass ich ›Lullaby‹ zu spielen versuchte, einen Song von George Cables, den ich zum ersten Mal auf einer Frank-Morgan-CD gehört hatte. Es war eine langsame Ballade und einfacher für mich zu spielen. Aber es war auch eine schöne Komposition. Das Stück war traurig und unerschütterlich und erhebend, alles gleichzeitig. Es war nicht einmal anderthalb Minuten lang, aber für mich sagte es alles, was darüber gesagt werden musste, auf der Welt allein zu sein. Manchmal glaubte ich, wenn ich diesen einen Song gut zu spielen lernen könnte, würde das vollkommen ausreichen. Dann hätte ich mich bewährt.
    An diesem Tag kam er mir wie ein Grabgesang vor. Ich dachte beim Spielen die ganze Zeit an Martha Gessler. Ich erinnerte mich an ihr Foto in der Zeitung und in den Elf-Uhr-Nachrichten im Fernsehen. Ich erinnerte mich, wie meine Frau erzählt hatte, dass sie einmal die einzigen zwei Frauen in der Abteilung Bankraub gewesen waren. Sie mussten sich von den Männern ständig dumme Sprüche anhören, bis sie es ihnen schließlich zeigten. Sie fassten gemeinsam einen Bankräuber, der als Two-Step-Bandit bekannt war, weil er immer einen kleinen Tanz vollführte, wenn er eine Bank mit der Beute verließ.
    Zunächst achtete Sugar Ray auf meine Fingertechnik, während ich spielte, und nickte anerkennend. Aber etwa in der Mitte des Stücks schloss er die Augen und hörte, im Takt mit dem Kopf nickend, nur noch zu. Das war ein großes Kompliment. Als ich das Stück zu Ende gespielt hatte, öffnete er die Augen und lächelte.
    »Langsam kommst du auf den Trichter«, sagte er.
    Ich nickte.
    »Trotzdem musst du noch den Rauch aus deiner Lunge kriegen. Deine Kapazität steigern.«
    Ich nickte noch einmal. Ich hatte über ein Jahr keine Zigarette mehr angerührt, aber ich hatte fast mein ganzes Leben lang zwei Päckchen am Tag geraucht, und der Schaden war angerichtet. Luft in das Instrument zu bringen war manchmal so, als wälzte man einen Felsblock einen Hügel hinauf.
    Wir unterhielten uns, und ich spielte noch einmal fünfzehn Minuten, in denen ich mich vergeblich an dem Art-Pepper-Standard ›Straight Time‹ versuchte, bevor ich die Bridge zu Sugar Rays eigener Erkennungsmelodie ›The Sweet Spot‹ hinzukriegen versuchte. Es war ein kompliziertes Riff, aber ich hatte es zu Hause geübt, weil ich dem alten Mann eine Freude machen wollte.
    Am Ende der verkürzten Stunde bedankte ich mich bei Sugar Ray und fragte ihn, ob er etwas brauche.
    »Nur Musik«, sagte er.
    So antwortete er jedes Mal, wenn ich ihn fragte. Ich legte das Instrument in den Koffer zurück – er bestand immer darauf, dass ich es zum Üben bei mir hatte – und ließ ihn im Musikzimmer zurück.
    Als ich den Flur zum Eingang hinunterging, kam mir eine Frau namens Melissa Royal entgegen. Ich lächelte.
    »Hallo, Melissa.«
    »Hi, Harry, wie war die Stunde?«
    Sie war da, um ihre Mutter zu besuchen, eine Alzheimer-Patientin, die nie wusste, wer sie war. Wir hatten uns beim Weihnachtsessen kennen gelernt und waren uns dann gelegentlich bei unseren Besuchen begegnet. Sie fing an, die Besuche bei ihrer Mutter auf meine Stunden um drei Uhr abzustimmen. Das sagte sie mir zwar nicht,

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