Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
aber es war ziemlich offensichtlich. Wir gingen ab und zu einen Kaffee trinken, und dann lud ich sie mal ins Catalina ein, einen Jazzclub. Sie sagte, es hätte ihr gefallen, aber ich wusste, sie hatte nicht viel Ahnung von Jazz und interessierte sich auch nicht groß dafür. Sie war nur einsam und auf der Suche nach jemandem. Das störte mich nicht. So sind wir alle.
Das war der Stand der Dinge. Jeder von uns wartete, dass der andere den nächsten Schritt machte, obwohl die Tatsache, dass sie ins Heim kam, wenn sie wusste, dass ich wegen meiner Saxophonstunde dort war, in gewisser Weise auch ein Schritt war. Diesmal kam mir die Begegnung mit ihr ungelegen. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren, wenn ich es rechtzeitig nach Westwood schaffen wollte.
»Langsam komme ich auf den Trichter«, sagte ich. »Findet jedenfalls mein Lehrer.«
Sie lächelte.
»Na prima. Irgendwann müssen Sie uns noch mal was vorspielen.«
»Glauben Sie mir, dieser Tag liegt noch in weiter Ferne.«
Sie nickte freundlich und wartete. Jetzt war ich an der Reihe. Sie war Anfang vierzig und, wie ich, geschieden. Sie hatte hellbraunes Haar mit hellen Strähnen, die sie sich, hatte sie mir erzählt, im Schönheitssalon hatte machen lassen. Aber das Besondere an ihr war ihr Lächeln. Es nahm ihr ganzes Gesicht ein und war ansteckend. Mir war klar, mit ihr zusammen zu sein würde bedeuten, dass ich Tag und Nacht daran arbeitete, dieses Lächeln am Leben zu halten. Und ich wusste nicht, ob ich das könnte.
»Wie geht's Ihrer Mutter?«
»Das will ich gerade herausfinden. Fahren Sie schon? Sonst hätte ich kurz nach ihr gesehen und hinterher in der Cafeteria einen Kaffee mit Ihnen getrunken.«
Ich setzte einen gequälten Gesichtsausdruck auf und sah auf die Uhr.
»Das geht leider nicht. Ich muss um vier in Westwood sein.«
Sie nickte, als verstünde sie. Aber in ihren Augen konnte ich sehen, dass sie es als Zurückweisung empfand.
»Na, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Wahrscheinlich sind Sie sowieso schon spät dran.«
»Ja, ich sollte mich besser beeilen.«
Aber das tat ich nicht. Ich blieb stehen und sah sie an.
»Was ist?«, fragte sie schließlich.
»Ich weiß nicht. Im Moment habe ich ziemlich viel zu tun, wegen eines Falls, wissen Sie; aber ich überlege gerade, wann wir uns mal wieder treffen könnten.«
In ihre Augen schlich sich Argwohn, und sie deutete auf den Saxophonkoffer in meiner Hand.
»Ich dachte, Sie wären pensioniert.«
»Bin ich auch. Das mache ich im Moment nur so nebenher. Freiberuflich, könnte man sagen. Das ist übrigens, was ich gleich tun muss, mit jemandem vom FBI reden.«
»Oh. Dann aber mal los. Und seien Sie vorsichtig.«
»Keine Angst. Könnten wir uns dann also nächste Woche vielleicht mal einen Abend treffen?«
»Sicher, Harry. Gern.«
»Okay, schön. Ich freue mich schon, Melissa.«
Ich nickte, und sie nickte, und dann kam sie auf mich zu und stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie legte eine Hand auf meine Schulter und küsste mich auf die Wange. Dann ging sie weiter den Flur hinunter. Ich drehte mich um und sah ihr nach.
Ich ging aus dem Heim und fragte mich, was ich da eigentlich tat. Ich machte dieser Frau Hoffnungen, von denen ich tief in meinem Innern wusste, dass ich sie nicht erfüllen konnte. Es war ein Fehler, der guter Absicht entsprang, sie aber schließlich verletzen würde. Als ich in den Mercedes stieg, sagte ich mir, ich müsste es beenden, bevor es anfing. Wenn ich sie das nächste Mal sah, musste ich ihr sagen, dass ich nicht der Mann war, den sie suchte.
10
Es war 16 Uhr 15, als ich in der FBI-Zentrale in Westwood eintraf. Als ich über den Parkplatz auf den Sicherheitseingang zuging, begann mein Handy zu läuten. Es war Keisha Russell.
»Hallo, Harry Bosch«, sagte sie. »Wollte Ihnen nur sagen, ich habe alles ausgedruckt und in die Post gegeben. Aber in einem Punkt habe ich mich geirrt.«
»Und der ist?«
»Es gab noch einen Artikel zu dem Fall. Er erschien vor ein paar Monaten. Ich war damals in Urlaub. Wenn man es bei der Zeitung lange genug aushält, bekommt man vier Wochen bezahlten Urlaub. Ich hab ihn gleich auf einmal genommen und bin nach London geflogen. Während meiner Abwesenheit war der dritte Jahrestag von Martha Gesslers Verschwinden. Die Kollegen haben ganz gewaltig in meinem Revier gewildert, kann ich Ihnen sagen. David Ferrell hat den Fall noch mal aufgegriffen. Nichts Neues allerdings. Sie ist immer noch aktuell.«
»Aktuell? Soll ich das so
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