Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
ein Guckloch hatte, wusste ich, dass ich in ein Verhörzimmer ging. Und in diesem Moment wurde mir auch klar, dass das kein gemütlicher Plausch werden würde. Eher bekam ich einen ordentlichen Tritt in den Arsch – nach FBI-Art.
11
Als ich zu der geöffneten Tür kam, sah ich in der Mitte des Verhörzimmers einen quadratischen Tisch stehen. An diesem Tisch saß, mit dem Rücken zu mir, ein Mann in schwarzem Hemd und schwarzen Jeans. Er hatte kurz geschnittenes blondes Haar. Als ich beim Eintreten über seine extrem muskulöse Schulter schaute, sah ich, dass er in einer aufgeschlagenen Ermittlungsakte las. Er klappte sie zu und blickte auf, als ich um den Tisch herum zu dem Stuhl ging, der ihm gegenüberstand.
Es war Roy Lindell. Er lächelte über meine Reaktion.
»Harry Bosch«, sagte er. »Lange nicht gesehen, Podjo.«
Ich blieb kurz stehen, aber dann zog ich den Stuhl heraus und setzte mich. In der Zwischenzeit hatte Nunez die Tür geschlossen und mich mit Lindell allein gelassen.
Roy Lindell war inzwischen etwa vierzig. Die Muskelpakete, die ich in Erinnerung behalten hatte, existierten immer noch und spannten sein Hemd bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Er hatte immer noch die Las-Vegas-Bräune und die gebleichten Zähne, die dazugehörten. Ich war ihm zum ersten Mal im Zuge eines Ermittlungsverfahrens begegnet, das mich nach Las Vegas und mitten in eine verdeckte FBI-Operation verschlagen hatte. Zur Zusammenarbeit gezwungen, hatten wir es bis zu einem gewissen Grad geschafft, über unseren Schatten – sprich: Zuständigkeitsrangeleien und Behördenanimositäten – zu springen und den Fall zu lösen, wobei natürlich das FBI die Lorbeeren ganz allein erntete. Das war jetzt sechs oder sieben Jahre her. Ich glaube nicht, dass wir seitdem miteinander gesprochen hatten. Allerdings nicht, weil das FBI die Lorbeeren eingeheimst hatte. Einfach nur, weil Polizisten und FBI-Agenten nicht miteinander verkehrten.
»Ohne Pferdeschwanz hätte ich Sie fast nicht wiedererkannt, Roy.«
Er reckte seine mächtige Pranke über den Tisch, und ich streckte langsam die Hand aus und schüttelte sie. Er hatte die selbstsichere Ausstrahlung, wie sie große, kräftige Männer oft haben. Und er hatte das Schlawinergrinsen, das oft damit einhergeht. Die Bemerkung mit dem Pferdeschwanz war Spaß gewesen. Als wir uns zum ersten Mal begegneten – bevor ich wusste, dass er V-Mann war –, nahm ich mir die Freiheit, seinen Pferdeschwanz im Nacken mit einem Taschenmesser zu stutzen.
»Was treiben Sie inzwischen so? Sie haben Nunez erzählt, dass Sie ausgestiegen sind? Hab ich gar nicht mitbekommen.«
Ich nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. Das hier war sein Spiel. Ich hatte vor, alle ersten Züge ihn machen zu lassen.
»Und? Wie ist es, nicht mehr bei der Polizei zu sein?«
»Ich kann nicht klagen.«
»Wir haben Sie überprüft. Sind jetzt staatlich zugelassener Privatdetektiv, hm?«
Da mussten ja die Telefone heiß gelaufen sein in Sacramento.
»Ja, ich habe eine Lizenz. Einfach so.«
Fast hätte ich ihm dieselbe Geschichte aufgetischt wie Keisha Russell – dass das Ganze Teil des Abnabelungsprozesses sei –, tat es dann aber doch nicht.
»Muss schön sein, wenn man sein eigener Herr ist, sich die Arbeitszeit selbst einteilen kann, nur für Leute arbeitet, für die man arbeiten will.«
Das reichte mir, was das einleitende Geplänkel anging.
»Wissen Sie was, Roy, reden wir doch nicht über mich. Kommen wir zur Sache. Weshalb bin ich hier?«
Lindell nickte, als könne er das verstehen.
»Also, es ist Folgendes passiert: Sie rufen hier an und erkundigen sich nach einer Agentin, die mal hier gearbeitet hat, und das hat bei uns eine Reihe Warnlichter angehen lassen.«
»Martha Gessler.«
»Ganz recht. Marty Gessler. Dann wussten Sie also, wegen wem Sie angerufen haben, obwohl Sie Nunez gegenüber so getan haben, als wüssten Sie ihren Namen nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. Darauf bin ich erst aufgrund seiner Reaktion gekommen. Mir fiel ein, dass vor einiger Zeit eine Agentin spurlos verschwunden ist. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber irgendwann ist mir auch ihr Name wieder eingefallen. Wie ist gerade der Stand der Dinge? Verschwunden, aber nicht vergessen, nehme ich an.«
Lindell beugte sich vor und brachte seine mächtigen Arme über dem geschlossenen Ordner zusammen. Seine Handgelenke waren so dick wie die Beine des Tischs. Ich konnte mich erinnern, wie schwer es gewesen war, ihm
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