Harry Bosch 15 - Neun Drachen
dieser Zeit hatte er Eleanor Wish unwiederbringlich verloren, und jetzt musste er sich aufs Warten verlegen, ohne etwas zu haben, mit dem er die Trauer und die Schuldgefühle abwehren konnte, die jetzt ungehindert in sein Bewusstsein eindrangen. In der Hoffnung, die SMS würde rasch beantwortet, schaute er auf das Handy in Suns Hand.
Er hoffte vergeblich.
Minuten des Schweigens zogen vorüber, so langsam wie die Boote auf dem Fluss. Bosch versuchte, sich auf Peng Qingcai zu konzentrieren und auf die Frage, wie die Entführung abgelaufen sein könnte. Es gab zwar Verschiedenes, was nach seinem gegenwärtigen Informationsstand keinen Sinn ergab, aber er konnte sich zumindest schon einmal daranmachen, eine Chronologie und eine Ereigniskette zu erstellen. Und als er das tat, wurde ihm klar, dass alles auf seine Handlungen zurückzuführen war.
»Letztlich ist alles meine Schuld, Sun Yee. Ich habe den Fehler gemacht, dessentwegen das alles erst geschehen konnte.«
»Harry, es hat keinen Sinn …«
»Nein, lassen Sie mich bitte ausreden. Sie müssen deshalb alles erfahren, weil Sie vielleicht etwas sehen, was mir entgeht.«
Sun sagte nichts, und Bosch fuhr fort.
»Angefangen hat alles mit mir. Ich habe in L.A. in einem Fall ermittelt, in dem ein Triadenmitglied der Hauptverdächtige war. Weil ich bei den Ermittlungen nicht vorankam, bat ich meine Tochter, mir die chinesischen Schriftzeichen eines Tattoos zu übersetzen. Ich schickte ihr ein Foto davon und sagte ihr, dass es sich um einen Triadenfall handelte und dass sie das Tattoo niemandem zeigen und mit niemandem darüber sprechen dürfte. Das war ein Fehler. Einer Dreizehnjährigen so etwas zu erzählen ist das Gleiche, wie es in alle Welt hinauszuposaunen – in ihre Welt. Sie war viel mit Peng und seiner Schwester zusammen. Die beiden kamen nicht aus den behüteten Kreisen, in denen Madeline sonst verkehrte. Wahrscheinlich wollte sie damit ein bisschen Eindruck bei ihnen schinden. Sie hat ihnen von dem Tattoo und von meinem Fall erzählt, und damit fing alles an.«
Bosch schaute zu Sun hinüber, aber dessen Miene war unergründlich.
»Was sind behütete Kreise?«, fragte er.
»Ach, das ist nur so eine Redewendung. Es heißt lediglich, dass sie nicht aus Happy Valley waren, mehr nicht. Und Sie haben ja gesagt, dass Peng in Tuen Mun keiner Triade angehörte, aber vielleicht kannte er Leute, die in einer waren, und vielleicht wollte er bei ihnen einsteigen. Er verkehrte in einer völlig anderen Welt, auf der anderen Seite des Hafens in Happy Valley. Vielleicht kannte er jemanden und sah darin eine Möglichkeit, in die Triade aufgenommen zu werden. Er erzählte jemandem, was er gehört hatte. Sie brachten es mit L.A. in Zusammenhang und trugen ihm auf, das Mädchen zu entführen und mir eine Nachricht zu schicken. Das Video.«
An dieser Stelle machte Bosch eine kurze Pause, weil ihn wieder Gedanken an die Situation seiner Tochter ablenkten.
»Aber danach passierte etwas. Irgendetwas änderte sich. Peng brachte sie nach Tuen Mun. Vielleicht hat er sie der Triade dort angeboten, und sie haben sie auch abgeholt. Aber ihn haben sie trotzdem nicht aufgenommen. Stattdessen haben sie ihn und seine Familie umgebracht.«
Sun schüttelte kaum merklich den Kopf und sagte endlich etwas. Boschs Erklärung leuchtete ihm nicht ein:
»Aber warum sollten sie das tun? Seine ganze Familie umbringen?«
»Überlegen Sie doch mal, wann es passiert ist, Sun Yee. Die Frau in der Wohnung nebenan hat die Stimmen am späten Nachmittag durch die Wand dringen hören, richtig?«
»Ja.«
»Zu diesem Zeitpunkt saß ich noch im Flugzeug. Ich war auf dem Weg nach Hongkong, und irgendwie müssen sie das erfahren haben. Sie wollten mit allen Mitteln verhindern, dass ich Peng, seine Schwester oder seine Mutter finde. Deshalb haben sie diesen Risikofaktor beseitigt und jede Verbindung dorthin gekappt. Ich meine, wo wären wir ohne die SIM -Karte, die Peng versteckt hat? Wir wären total aufgeschmissen.«
Schonungslos deutete Sun auf etwas, was Bosch übersehen hatte.
»Und woher wussten sie, dass Sie nach Hongkong kommen?«
Bosch schüttelte den Kopf.
»Gute Frage. In dem Ermittlungsverfahren gab es von Anfang an eine undichte Stelle, die die Gegenseite über meine Schritte informiert hat. Aber ich dachte, ich wäre ihnen wenigstens einen Tag voraus.«
»In Los Angeles?«
»Ja, zu Hause in L.A. Jemand hat den Verdächtigen gewarnt, dass wir ihn im Visier hatten, woraufhin er sich
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