Harry Bosch 15 - Neun Drachen
begann, die Fotos eins nach dem anderen zu öffnen, doch die einzigen Aufnahmen neueren Datums waren die zwei Fotos, die Bosch seiner Tochter von John Lis Lunge und von dem Tattoo geschickt hatte. Der Rest waren Fotos von Madelines Freundinnen und von Schulausflügen. Sie waren zwar nicht mit einem Datum versehen, schienen aber mit der Entführung nichts zu tun zu haben. Er fand ein paar Aufnahmen von ihrem Ausflug zum Jademarkt in Kowloon. Sie hatte verschiedene kleine Jadeskulpturen von Paaren in Kamasutra-Positionen aufgenommen. Bosch erklärte sie sich mit Teenager-Neugier. Fotos, die bei den Mädchen in Madelines Schule garantiert für nervöses Kichern sorgten.
»Nichts«, meldete er Sun.
Er gab jedoch nicht auf, und in der Hoffnung, auf eine versteckte Botschaft zu stoßen, klickte er ein Icon nach dem anderen an. Dabei stellte er fest, dass Madelines Telefonbuch auf der SIM -Karte gespeichert war.
»Ich habe ihr Telefonbuch hier drauf.«
Er öffnete die Datei und kam auf das Verzeichnis ihrer Kontakte. Er kannte nicht alle ihre Freunde, und viele waren nur mit ihrem Spitznamen aufgeführt. Er klickte auf den Eintrag
Dad
und bekam seine Handy- und Festnetznummer angezeigt, aber sonst nichts, nichts, was dort nichts zu suchen hatte.
Er kehrte zum Verzeichnis zurück und suchte weiter. Als er zum Buchstaben T kam, fand er endlich etwas, was vielleicht interessant werden konnte: ein Eintrag für Tuen Mun, der nur aus einer Telefonnummer bestand.
Sun war zu einem langgezogenen, schmalen Park gefahren, der am Fluss unter einer der Brücken lag. Bosch hielt ihm das Handy hin.
»Diese Nummer habe ich gerade gefunden. Sie stand unter ›Tuen Mun‹. Es ist die einzige Nummer, die nicht unter einem Namen eingetragen ist.«
»Warum könnte sie diese Nummer auf ihrem Handy haben?«
Bosch überlegte eine Weile, welche Erklärung es dafür geben könnte.
»Keine Ahnung«, sagte er schließlich.
Sun nahm das Handy und sah auf das Display.
»Das ist Handy-Nummer.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie beginnt mit neun. Das ist in Hongkong Handy-Vorwahl.«
»Okay, und was fangen wir jetzt damit an? Sie ist unter Tuen Mun gespeichert. Sie könnte dem Kerl gehören, der meine Tochter entführt hat.«
Sun starrte durch die Windschutzscheibe auf den Fluss, während er über eine Antwort und einen Plan nachdachte.
»Wir könnten ihm eine SMS schicken«, sagte er schließlich. »Vielleicht antwortet er.«
Bosch nickte.
»Genau. Wir versuchen, ihn zu ködern. Vielleicht gelingt es uns so, seinen Standort herauszubekommen.«
»Und wie wollen Sie das genau machen?«
»Na ja, wir stellen ihm eine Falle, locken ihn aus der Deckung. Wir tun so, als würden wir ihn kennen, und verabreden ein Treffen mit ihm. Auf diese Weise verrät er uns seinen Standort.«
Sun blickte weiter auf den Fluss hinaus, während er über diesen Vorschlag nachdachte. Auf dem Wasser glitt träge ein Frachtkahn vorbei. Er war in Richtung Süden, dem Meer entgegen, unterwegs. Bosch begann, sich über eine Alternative Gedanken zu machen. Vielleicht war es David Chu zu Hause in L.A. möglich, den Namen und die Adresse herauszufinden, die zu dieser Hongkonger Handy-Nummer gehörten.
»Vielleicht kennt er die Nummer und merkt, dass es eine Falle ist«, sagte Sun schließlich. »Besser, wir nehmen mein Handy.«
»Meinen Sie?«
»Ja. Ich finde, wir sollten ihm die Nachricht auf Chinesisch schicken. Das wirkt glaubwürdiger.«
Bosch nickte erneut.
»Richtig. Gute Idee.«
Sun holte sein Handy heraus und ließ sich von Bosch die auf Madelines SIM -Karte gespeicherte Handynummer geben. Er ging auf
Neue Nachricht,
doch dann zögerte er.
»Was soll ich schreiben?«
»Es muss auf jeden Fall dringend wirken. Damit er den Eindruck gewinnt, antworten zu müssen – und zu dem vorgeschlagenen Treffen zu erscheinen.«
Sie spielten ein paar Minuten lang verschiedene Möglichkeiten durch und einigten sich schließlich auf einen Text, der einfach und direkt war. Sun übersetzte ihn und schickte ihn ab. Die auf Chinesisch verfasste Nachricht lautete:
Mit dem Mädchen gibt es Probleme. Wo können wir uns treffen?
»Okay«, sagte Bosch. »Jetzt können wir erst mal nichts tun als warten.«
Er hatte beschlossen, Chu nur hinzuzuziehen, wenn es sich nicht umgehen ließe.
Er sah auf die Uhr. Es war vierzehn Uhr. Inzwischen war er bereits neun Stunden in Hongkong und seiner Tochter keinen Deut näher, als er das zehntausend Meter über dem Pazifik gewesen war. In
Weitere Kostenlose Bücher