Harry Bosch 15 - Neun Drachen
sich inzwischen noch ein Kapuzenshirt übergestreift hatte. Irgendwie schien ihr kalt zu sein.
»Alles klar?«, fragte Bosch.
Sie antwortete nicht. Sie blieb nur mit gesenktem Kopf vor ihm stehen.
»Ich weiß, es ist eine dumme Frage«, fuhr Bosch fort. »Aber traust du dir überhaupt zu, in ein Flugzeug zu steigen? Eben wurde unser Flug aufgerufen. Wir müssen jetzt an Bord gehen.«
»Meinetwegen kann’s losgehen. Ich wollte einfach nur richtig schön und lange duschen.«
»Klar.«
Sie verließen den Wartebereich und gingen zum Flugsteig. Das Sicherheitsaufgebot dort war nicht umfangreicher als sonst. Sie mussten Tickets und Pässe vorlegen, dann wurden sie an Bord gelassen.
Das Flugzeug war ein großer Doppeldecker, in dem sich das Cockpit auf der oberen Ebene befand und die First-Class-Kabine direkt darunter in der Nase des Flugzeugs. Eine Flugbegleiterin sagte ihnen, sie seien die einzigen First-Class-Passagiere und könnten sich ihre Plätze selbst aussuchen. Sie entschieden sich für die zwei Sitze in der vordersten Reihe, und es war, als hätten sie das ganze Flugzeug für sich allein. Bosch hatte sich fest vorgenommen, seine Tochter nicht aus den Augen zu lassen, bis sie in Los Angeles eintrafen.
Als alle Passagiere an Bord waren, begrüßte sie der Kapitän über die Sprechanlage und teilte ihnen mit, dass die Flugzeit nur dreizehn Stunden betrüge. Sie sei wegen Rückenwinds kürzer als auf dem Hinflug. Außerdem flögen sie gegen die Zeit zurück und würden deshalb Sonntagabend 21:30 Uhr in Los Angeles landen, zwei Stunden vor dem Start in Hongkong.
Bosch rechnete kurz nach und gelangte zu dem Ergebnis, dass er dann einen 39-Stunden-Tag hinter sich hätte. Den längsten Tag seines Lebens.
Wenig später erhielt die Maschine pünktlich ihre Starterlaubnis. Sie rollte auf die Startbahn, beschleunigte und stieg lärmend in den dunklen Himmel. Bosch begann etwas befreiter zu atmen, als er aus dem Fenster schaute und die Lichter Hongkongs unter den Wolken verschwinden sah. Er hoffte, nie mehr zurückzukommen.
Seine Tochter fasste über den Zwischenraum zwischen ihren Sitzen und ergriff seine Hand. Er drehte sich zu ihr und sah ihr in die Augen. Sie hatte wieder zu weinen begonnen. Bosch drückte ihre Hand und nickte.
»Es wird alles wieder gut, Maddie.«
Sie nickte ebenfalls und hielt weiter seine Hand.
Als die Maschine Reiseflughöhe erreicht hatte, kam die Flugbegleiterin und bot ihnen etwas zu essen und zu trinken an, aber sowohl Bosch als auch seine Tochter lehnten ab. Madeline sah sich einen Film über Vampire im Teenageralter an, dann klappte sie ihren Sitz flach nach hinten – einer der Vorteile der ersten Klasse – und kuschelte sich an ihr neues Kissen.
Wenig später schlief sie tief und fest, und Bosch stellte sich vor, dass eine Art innerer Heilungsprozess einsetzte. Die Armeen des Schlafs, die durch ihr Hirn marschierten und die bösen Erinnerungen angriffen.
Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie ganz leicht auf die Wange. Während die Sekunden, Minuten und Stunden rückwärtsliefen, beobachtete er sie im Schlaf und wünschte sich das Unmögliche: dass sich die Uhr so weit zurückdrehen ließe, dass er den ganzen Tag noch einmal von neuem beginnen könnte. Das war sein Wunschtraum. Die Realität war, dass sich sein Leben fast ebenso einschneidend verändert hatte wie ihres. Sie war jetzt bei ihm. Und er wusste, egal, was er bis zu diesem Punkt in seinem Leben getan oder bewirkt hatte, sie war seine Chance auf Vergebung.
Wenn er sich gut um sie kümmerte, hatte er die Möglichkeit, alles wiedergutzumachen. Alles.
Eigentlich hatte er sich vorgenommen, die ganze Nacht auf sie aufzupassen. Aber schließlich überwältigte ihn die Müdigkeit, und er schloss die Augen. Bald träumte er von einem Platz an einem Fluss. Im Freien stand ein Tisch mit einem weißen, vom Wind gekräuselten Tischtuch. Er saß daran Eleanor und Madeline gegenüber, und sie lächelten ihn an. Es war ein Traum von einem Ort, den es nie gegeben hatte und nie geben würde.
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Teil 3
Schützen und dienen
39
D ie letzte Hürde waren Zoll und Passkontrolle in Los Angeles. Der Mann am Einreiseschalter zog ihre Pässe über den Scanner und wollte sie gerade routinemäßig abstempeln, als ihm auf seinem Computermonitor etwas ins Auge fiel. Bosch hielt den Atem an.
»Mr. Bosch. Sie waren nicht mal einen Tag lang in Hongkong?«
»Das ist richtig. Ich habe nicht mal eine Tasche dabei. Ich habe nur
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