Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Dusche gab. Bosch bedankte sich für den Hinweis, nahm ihre Boarding-Pässe an sich und folgte einer First-Class-Hostess zur Sicherheitskontrolle. Wie erwartet, gab es beim Security-Check dank ihres neu erworbenen Status keinerlei Probleme.
Sie hatten noch fast drei Stunden totzuschlagen, aber trotz der Lockungen einer heißen Dusche entschied Bosch, dass Nahrungsaufnahme das vordringlichere Bedürfnis wäre. Er konnte sich nicht erinnern, wann und was er zuletzt gegessen hatte, und nahm an, dass seine Tochter ähnlich ausgehungert wäre.
»Hast du Hunger, Mads?«
»Eigentlich nicht.«
»Hast du was zu essen bekommen?«
»Nein. Aber ich hätte sowieso nichts runtergekriegt.«
»Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?«
Sie musste überlegen.
»Am Freitag, in der Mall. Ein Stück Pizza. Und davor …«
»Okay, dann müssen wir unbedingt was essen.«
Sie fuhren im Lift in eine Etage mit mehreren Restaurants, von denen man auf das Duty-free-Einkaufsmekka hinabblickte. Bosch entschied sich für ein Restaurant in der Mitte, von dem man einen guten Blick auf die verschiedenen Shopping-Ebenen hatte. Seine Tochter bestellte Chicken Fingers, Bosch ein Steak mit Pommes.
»Am Flughafen sollte man nie Steak essen«, sagte Madeline.
»Warum nicht?«
»Weil man kein Gescheites bekommt.«
Bosch nickte. Es war das erste Mal, dass sie mehr als ein, zwei Worte von sich aus gesagt hatte, seit sie sich von Sun verabschiedet hatten. Bosch war nicht entgangen, wie sie langsam in sich zusammengefallen war, als der nach ihrer Befreiung einsetzende Angstabbau nachzulassen begann und der Realität dessen Platz machte, was sie durchgemacht hatte und was ihrer Mutter zugestoßen war. Bosch befürchtete schon die ganze Zeit, sie könnte in eine Art Schockzustand verfallen. Die eigenartige Bemerkung über die Qualität von Steaks in Flughafenrestaurants schien darauf hinzudeuten, dass sie sich in einem dissoziativen Zustand befand.
»Das werde ich ja gleich sehen.«
Darauf sprang sie zu einem neuen Thema.
»Werde ich also jetzt bei dir in L.A. wohnen?«
»Ich denke schon.«
Er forschte nach einer Reaktion in ihrem Gesicht. Ihre Miene blieb unverändert – ausdrucksloser Blick über Wangen, die von getrockneten Tränen und Traurigkeit gezeichnet waren.
»Ich würde mich jedenfalls freuen«, fügte Bosch hinzu. »Als du letztes Mal zu Besuch warst, hast du ja auch gesagt, du wolltest gern bleiben.«
»Aber nicht so.«
»Ich weiß.«
»Kann ich noch mal nach Hause, meine Sachen holen und mich von meinen Freundinnen verabschieden?«
Bosch dachte eine Weile nach, bevor er antwortete.
»Ich glaube nicht. Deine Sachen kann ich dir vielleicht nachschicken lassen. Aber deinen Freundinnen wirst du wahrscheinlich nur eine Mail senden können. Oder sie anrufen.«
»Aber verabschieden kann ich mich von ihnen.«
Bosch nickte und schwieg angesichts der unüberhörbaren Anspielung auf ihre tote Mutter. Aber sie redete schon kurz darauf wieder weiter, ihre Gedanken wie ein vom Wind erfasster Luftballon, der, von unvorhersehbaren Strömungen erfasst, bald hier, bald da aufsetzte.
»Werden wir hier von der Polizei gesucht?«
Bevor Bosch sich vorbeugte, um zu antworten, schaute er sich um, ob jemand in der Nähe die Frage gehört haben könnte.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht. Ich zumindest. Aber ich möchte es nicht darauf ankommen lassen, das herauszufinden, solange wir noch hier sind. Es ist bestimmt besser, das alles in L.A. zu klären.«
Und dann, nach einer Pause, stellte sie Bosch eine weitere Frage, und von der blieb ihm erst mal die Luft weg.
»Dad, hast du die Männer, die mich entführt haben, umgebracht? Da wurde doch ziemlich viel geschossen.«
Bosch dachte nach, wie er darauf antworten sollte – ob als Polizist oder als Vater –, aber er musste nicht lange überlegen.
»Sagen wir einfach, sie haben bekommen, was sie verdient haben. Und was ihnen passiert ist, haben sie ganz allein sich selbst zuzuschreiben. Okay?«
»Okay.«
Als ihr Essen kam, hörten sie zu reden auf und machten sich heißhungrig darüber her. Bosch hatte das Restaurant, den Tisch und seinen Platz so gewählt, dass er sowohl die Läden als auch die Sicherheitskontrolle gut im Blick hatte. Er passte beim Essen genau auf, ob sich das Flughafen-Sicherheitspersonal in irgendeiner Weise auffällig verhielt. Jegliche gemeinsamen Aktionen mehrerer Personen hätten ihn sofort in Alarmbereitschaft versetzt. Er hatte zwar keine Ahnung, ob ihn die
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