Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Chu an.
»Hier Bosch. Entschuldigung, dass ich so spät noch störe.«
»Kein Problem. Wie sieht’s bei Ihnen in Hongkong aus?«
»Ich bin schon wieder in L.A.«
»Sie sind bereits zurück? Und Ihre Tochter?«
»Ist in Sicherheit. Was gibt’s Neues von Chang?«
Chu antwortete erst nach kurzem Zögern. Er wollte nicht derjenige sein, der Bosch die schlechte Nachricht überbrachte.
»Tja, er kommt morgen frei. Wir haben nichts, um Anklage gegen ihn zu erheben.«
»Und die Erpressung?«
»Ich habe heute noch mal einen letzten Versuch gestartet. Aber Li und Lam wollen nicht Anzeige erstatten. Sie haben zu viel Angst vor der Triade. Li hat gesagt, es hätte bereits jemand angerufen und ihm gedroht.«
Bosch musste an den Drohanruf denken, den er am Freitag erhalten hatte. Vermutlich war es derselbe Anrufer gewesen.
»Chang kommt also morgen frei und fährt zum Flughafen, steigt in ein Flugzeug und verschwindet für immer.«
»Sieht ganz so aus, Harry.«
Bosch schüttelte den Kopf. Innerlich kochte er vor Wut.
»Diese verdammten Schweine.«
Bosch merkte, dass ihn seine Tochter hören könnte. Er öffnete eine der Schiebetüren des Wohnzimmers und ging auf die Terrasse hinaus. Das Rauschen des Freeways unten im Pass würde seine Worte übertönen.
»Sie wollten meine Tochter verkaufen«, fuhr er fort. »Wegen ihrer Organe.«
»Im Ernst?«, sagte Chu. »Ich dachte, sie wollten Sie bloß einschüchtern.«
»Sie haben ihr Blut abgenommen, und offensichtlich hatte sie die gleiche Blutgruppe wie jemand mit sehr viel Geld, denn plötzlich haben sie es sich anders überlegt.«
»Sie könnten den Bluttest ja auch nur gemacht haben, um festzustellen, dass sie keine ansteckenden Krankheiten hat, bevor sie …«
Chu verstummte, als er merkte, dass diese Alternative kaum weniger beängstigend war. Dann gab er dem Gespräch eine andere Richtung.
»Ist sie bei Ihnen, Harry?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, sie ist in Sicherheit.«
Bosch wusste, Chu würde seine ausweichende Antwort als Zeichen seines mangelnden Vertrauens auslegen, aber dann war es eben so. Nach dem Tag, den er hinter sich hatte, konnte er einfach nicht anders. Er versuchte, das Thema zu wechseln.
»Wann haben Sie zum letzten Mal mit Ferras oder Gandle gesprochen?«
»Von Ihrem Partner habe ich seit Freitag nichts mehr gehört, mit dem Lieutenant habe ich erst vor zwei Stunden telefoniert. Er wollte wissen, wie die Dinge stehen. Auch er war ziemlich angefressen.«
Es war Sonntag und fast Mitternacht, und trotzdem war der Freeway unten im Tal voll, alle zehn Fahrspuren. Die Luft war frisch und kühl, eine willkommene Abwechslung zu Hongkong.
»Wer sagt der Staatsanwaltschaft eigentlich Bescheid, dass sie ihn freilassen sollen?«, fragte Bosch.
»Ich wollte morgen Vormittag bei ihnen anrufen. Es sei denn, Sie möchten das übernehmen.«
»Ich weiß noch nicht, ob ich morgen Vormittag reinkomme. Übernehmen ruhig Sie das, aber rufen Sie nicht vor zehn an.«
»Klar, aber warum erst nach zehn?«
»Damit ich noch Zeit habe, in die Stadt zu fahren und mich von Mr. Chang zu verabschieden.«
»Harry, tun Sie nichts, was Sie hinterher bereuen werden.«
Bosch dachte kurz an die letzten drei Tage.
»Dafür ist es zu spät.«
Bosch beendete das Gespräch mit Chu. Er blieb am Geländer stehen und blickte in die Nacht hinaus. Es vermittelte ihm zweifellos ein gewisses Gefühl von Sicherheit, zu Hause zu sein, aber er konnte einfach nicht anders: Er musste an das denken, was er verloren und zurückgelassen hatte. Es war, als wären ihm die hungrigen Geister Hongkongs über den Pazifik gefolgt.
»Dad?«
Er drehte sich um. Seine Tochter stand in der offenen Tür.
»Ja, Schatz.«
»Ist irgendwas?«
»Nein, warum?«
Sie kam auf die Terrasse und stellte sich neben ihn ans Geländer.
»Du hast dich gerade ziemlich wütend angehört. Als du telefoniert hast, meine ich.«
»Ach, das war wegen eines Falls. Und da läuft einiges schief.«
»Das tut mir leid.«
»Nicht deine Schuld. Aber hör zu, ich muss morgen früh kurz in die Stadt. Ich werde ein paar Leute anrufen, ob vielleicht jemand auf dich aufpassen kann, solange ich weg bin. Aber wenn ich wieder zurückkomme, fahren wir einkaufen – wie versprochen. Okay?«
»Meinst du, so eine Art Babysitter?«
»Nein … ich meine, na ja, vielleicht doch.«
»Dad, ich hatte keinen Babysitter und kein Kindermädchen mehr, seit ich zwölf bin.«
»Ja, schon, aber das ist erst ein Jahr her.«
»Ich
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