Harry Bosch 15 - Neun Drachen
komme schon allein klar. Ich meine, Mom lässt mich doch nach der Schule auch allein in die Mall gehen.«
Bosch entging nicht, dass sie im Präsens sprach. Es lag ihm auf der Zunge, dass die Entscheidung, sie allein in die Mall gehen zu lassen, nicht besonders glücklich gewesen war, aber er war klug genug, sich das für eine spätere Gelegenheit aufzusparen. Der entscheidende Punkt war, dass Madelines Sicherheit absoluten Vorrang hatte. Konnten sie die Kreise, die sie in Hongkong in ihre Gewalt gebracht hatten, auch hier, auf der anderen Seite der Welt, in seinem Haus finden?
Eigentlich schien es ausgeschlossen, aber selbst wenn die Wahrscheinlichkeit nur sehr gering war, durfte er nicht riskieren, seine Tochter unbeaufsichtigt zu lassen. Das Problem war nur, dass er nicht sicher war, wen er damit beauftragen könnte. In der Nachbarschaft war er nicht wirklich eingebunden. Er war nur der Polizist im Viertel, den man rief, wenn es Ärger gab. Aber darüber hinaus hatte er kaum etwas mit den Leuten in seiner Straße zu tun oder mit sonst jemandem, der nicht bei der Polizei war. Er wusste nicht, wem er vertrauen konnte und wer dafür eher in Frage käme als eine wildfremde Person, die er in den Babysitterannoncen im Telefonbuch aussuchte. Bosch wusste nicht weiter, und allmählich dämmerte ihm, dass er vollkommen ungeeignet war, seine Tochter aufzuziehen.
»Maddie, das ist jetzt einer dieser Momente, die ich gemeint habe, als ich dir gesagt habe, du müsstest Geduld mit mir haben. Ich möchte dich im Moment einfach noch nicht allein lassen. Du kannst ja in deinem Zimmer bleiben, wenn du möchtest – wahrscheinlich wirst du wegen des Jetlags sowieso noch schlafen. Aber ich möchte, dass ein Erwachsener bei dir im Haus ist. Jemand, dem ich vertraue.«
»Wenn du unbedingt meinst.«
Der Gedanke, dass er der Polizist im Viertel war, brachte ihn plötzlich auf eine andere Idee.
»Und was hältst du davon? Wenn du nicht willst, dass jemand auf dich aufpasst, hätte ich einen anderen Vorschlag. Unten am Fuß des Hügels gibt es eine Schule. Eine staatliche Mittelschule. Ich glaube, die Ferien sind erst letzte Woche zu Ende gegangen. Ich habe nämlich auf dem Weg zur Arbeit die ganzen Autos davor stehen sehen. Ich weiß zwar noch nicht, ob du dort zur Schule gehen wirst oder ob wir versuchen sollen, in einer Privatschule einen Platz für dich zu organisieren, aber ich könnte dich trotzdem hinbringen, damit du dir die Schule schon mal ansehen kannst. Dich vielleicht in ein paar Klassen reinsetzen und sehen, wie du es dort so findest, während ich in die Stadt fahre. Wie fändest du das? Ich kenne die stellvertretende Direktorin. Bei ihr bist du in guten Händen.«
Seine Tochter steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und blickte eine Weile reglos auf die Stadt hinab, bevor sie antwortete.
»Okay, meinetwegen.«
»Gut, dann machen wir das. Ich rufe morgen früh an und kümmere mich darum.«
Problem gelöst, dachte Bosch.
»Dad?«
»Ja, Schatz?«
»Ich habe gehört, was du am Telefon gesagt hast.«
Er zuckte innerlich zusammen.
»Sorry. Ich werde versuchen, künftig besser auf meine Wortwahl zu achten. Ganz besonders, wenn du dabei bist.«
»Nein, nicht das. Ich meine, als du hier draußen warst. Als du gesagt hast, dass sie meine Organe verkaufen wollten. Stimmt das?«
»Das weiß ich nicht, Schatz. Ich weiß nicht, was sie genau vorhatten.«
»Quick hat mir Blut abgenommen. Er hat gesagt, er würde es dir schicken. Du weißt schon, damit du einen DNA -Test machen kannst und einen Beweis hast, dass ich tatsächlich entführt worden bin.«
Bosch nickte.
»Also, da hat er dich angeschwindelt. Das Video, das er mir geschickt hat, war Beweis genug. Die Blutprobe wäre vollkommen überflüssig gewesen. Er hat dich belogen, Mad. Er hat dich auf übelste Weise hintergangen, und er hat verdient, was ihm danach passiert ist.«
Sie drehte sich abrupt zu ihm herum, und er merkte, dass ihm schon wieder ein Lapsus unterlaufen war.
»Wieso? Was ist ihm passiert?«
Bosch wusste, er wollte sich nicht auf den schlüpfrigen Abhang begeben, seine Tochter zu belügen, zumal er wusste, dass ihr an Quicks Schwester und vielleicht sogar an Quick selbst etwas gelegen war. Wahrscheinlich war ihr das wahre Ausmaß seines Vertrauensbruchs noch immer nicht bewusst.
»Er ist tot.«
Ihr stockte der Atem, und sie riss die Hände an ihren Mund.
»Hast du ihn …«
»Nein, Maddie. Ich habe nur seine Leiche entdeckt, als ich
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