Harry Bosch 15 - Neun Drachen
das ist also, was ich mache, ihn ›einschränken‹? Und was ist damit, dass er John Lis Leben einschränkt?«
Bosch sah, wie Chang hinter Wing grinsend den Kopf schüttelte. Dann hörte er hinter sich eine Autotür zufallen, und Wings Blick richtete sich plötzlich auf eine Stelle hinter ihm.
»Sehen Sie zu, dass Sie alles aufnehmen«, ordnete der Anwalt an.
Bosch blickte hinter sich und sah, dass ein Mann mit einer Videokamera aus dem großen SUV gestiegen war. Das Objektiv der Kamera war auf Bosch gerichtet.
»Detective, wenn Sie Mr. Chang in irgendeiner Weise anfassen oder belästigen, wird alles aufgezeichnet und an die Medien weitergeleitet.«
Bosch wandte sich wieder Wing und Chang zu. Changs hämisches Grinsen war einem zufriedenen Lächeln gewichen.
»Sie glauben, damit ist der Fall erledigt, Chang? Dass Sie sich da mal nicht täuschen. Sie und Ihre Leute haben es eindeutig überreizt. Jetzt nehme ich die Sache nämlich persönlich in die Hand, und die Seite von mir sollen Sie erst noch kennenlernen.«
»Machen Sie bitte Platz, Detective«, sagte Wing, bewusst an die Kamera gerichtet. »Mr. Chang fährt jetzt weg, weil die Vorwürfe, die Sie gegen ihn erhoben haben, vollkommen haltlos sind. Er wird wegen der Belästigung seitens des LAPD nach Hongkong zurückkehren. Ihretwegen ist es ihm nun nicht mehr möglich, sein Leben hier in der Form weiterzuführen, wie er es bisher tat.«
Bosch machte den zwei Männern Platz und ließ sie zum Auto gehen.
»Sie können so viel Scheiße reden, wie Sie wollen, Wing. Und Ihre Kamera können Sie sich den Arsch hochschieben.«
Zuerst stieg Chang in den Fonds Escalade, dann signalisierte Wing dem Kameramann, vorn einzusteigen.
»Jetzt haben wir Ihre Drohung auf Video, Detective«, stellte Wing fest. »Merken Sie sich das gut.«
Damit ließ Wing sich neben Chang nieder und schloss die Tür. Bosch stand da und sah zu, wie der große Geländewagen losfuhr, um Chang wahrscheinlich direkt zum Flughafen zu bringen und endgültig dem Zugriff der Behörden zu entziehen.
Als Bosch in die Schule zurückkam, suchte er als Erstes das Büro der stellvertretenden Direktorin auf. Sue Bambrough hatte sich am Morgen bereit erklärt, Madeline probeweise am Unterricht der achten Klassen teilnehmen zu lassen, damit sie sich einen Eindruck von der Schule verschaffen konnte. Als Bosch Bambroughs Büro betrat, forderte sie ihn auf, Platz zu nehmen, und erzählte ihm dann, seine Tochter sei noch im Unterricht und finde sich bereits erstaunlich gut zurecht. Bosch war überrascht. Sie war gerade einmal zwölf Stunden in Los Angeles, und das, nachdem sie ihre Mutter verloren und ein nervenaufreibendes Wochenende in der Gewalt ihrer Entführer verbracht hatte. Er hatte befürchtet, Madeline in der Schule abzuliefern, könnte sich als verhängnisvoller Fehler erweisen.
Bosch kannte Bambrough bereits. Ein Nachbar, dessen Sohn die Schule besuchte, hatte ihn vor ein paar Jahren gebeten, in der Klasse des Jungen über Kriminalität und die Tätigkeit der Polizei zu sprechen. Bambrough war eine kluge, resolute Frau, die sich ausführlich mit Bosch unterhalten hatte, bevor sie ihn vor ihren Schülern sprechen ließ. So gründlich war Bosch selbst vor Gericht von Strafverteidigern selten auf den Zahn gefühlt worden. Sie ließ kaum ein gutes Haar an der Arbeit der Polizei in L.A., aber ihre Argumente hatten Hand und Fuß und waren klar formuliert. Bosch respektierte sie.
»Der Unterricht ist in zehn Minuten zu Ende, dann bringe ich Sie zu ihr«, sagte Bambrough. »Da wäre allerdings noch ein Punkt, über den ich vorher gern mit Ihnen sprechen würde, Detective Bosch.«
»Ich habe Ihnen doch letztes Mal schon gesagt, Sie können mich gern Harry nennen. Aber, worüber wollen Sie mit mir sprechen?«
»Na ja, Ihre Tochter erzählt ja vielleicht abenteuerliche Geschichten. Jemand hat gehört, wie sie in der Pause ein paar anderen Schülern berichtet hat, sie sei eben erst von Hongkong hierhergezogen, weil ihre Mutter ermordet und sie selbst entführt worden sei. Ich mache mir ein wenig Sorgen, ob sie nicht ein bisschen gewaltsam versucht, sich interessant zu machen, um …«
»Es stimmt aber. Alles.«
»Wie bitte?«
»Sie wurde entführt, und ihre Mutter wurde bei dem Versuch, sie zu befreien, ermordet.«
»Oh, mein Gott! Wann war das?«
Bosch bereute, Bambrough nicht alles erzählt zu haben, als sie sich am Morgen unterhalten hatten. Er hatte ihr lediglich mitgeteilt, dass seine
Weitere Kostenlose Bücher