Harry Bosch 15 - Neun Drachen
zu verstehen, dass er Chang notfalls laufenließe, um Boschs Tochter freizubekommen. Der DA würde dann am Montag einfach in Kenntnis gesetzt, dass keine Beweise zur Stützung der Mordanklage vorgelegt werden könnten und Chang deshalb auf freien Fuß gesetzt werden müsse.
»Danke, Lieutenant. Das rechne ich Ihnen hoch an.«
»Und ich habe natürlich nichts von all dem gesagt.«
»Dieses Problem wird sich nie stellen, was aber nicht heißt, dass ich Ihnen nicht trotzdem sehr dankbar bin für das, was Sie gerade nicht gesagt haben. Außerdem, so traurig es auch sein mag, müssen wir Chang am Montag möglicherweise sowieso laufenlassen. Es sei denn, übers Wochenende tut sich noch etwas, oder wir finden bei den Durchsuchungen etwas Brauchbares.«
Bosch fiel ein, dass er Teri Sopp versprochen hatte, ihr eine Kopie von Changs Fingerabdruckkarte zukommen zu lassen, damit sie sie zur Hand hätte, wenn bei der Untersuchung der Patronenhülse mit dem neuen elektrostatischen Verfahren etwas herauskam.
Er bat Gandle, dafür zu sorgen, dass ihr Ferras oder Chu eine Karte vorbeibrachten. Der Lieutenant sagte, er werde sich darum kümmern. Er gab Bosch den Ausdruck des Videostandbilds zurück und sagte, was er immer sagte: Bosch solle ihn auf dem Laufenden halten. Dann ging er in sein Büro zurück.
Bosch legte den Ausdruck auf den Schreibtisch und setzte seine Lesebrille auf. Dann holte er ein Vergrößerungsglas aus der Schublade und begann, jeden Quadratzentimeter des Bilds nach aufschlussreichen Details abzusuchen, die ihm bisher entgangen sein könnten. Zehn Minuten später – er hatte nichts Neues entdeckt – läutete sein Handy. Es war Ferras, der noch nicht wusste, dass Boschs Tochter entführt worden war.
»Harry, ich habe sie. Wir haben die Durchsuchungsbeschlüsse für Telefon, Koffer und Auto.«
»Ignacio, auf dich ist einfach Verlass. Gegen deine Argumente kommt so schnell keiner an.«
Es stimmte. In den drei Jahren, die sie Partner waren, hatte Ferras noch keinen einzigen Antrag auf Ausstellung eines Durchsuchungsbeschlusses geschrieben, der von einem Richter wegen unzureichender Begründung abgelehnt worden war. Er hatte vielleicht vor dem Außendienst Manschetten, aber von der Gerichtsbürokratie ließ er sich nicht einschüchtern. Er schien ein todsicheres Gespür dafür zu haben, was man in einen Durchsuchungsantrag hineinschreiben und was man herauslassen musste.
»Danke, Harry.«
»Bist du im Gericht jetzt fertig?«
»Ja, ich wollte gerade zurückkommen.«
»Warum machst du nicht einen kleinen Umweg und kümmerst dich in der OPG ums Auto? Ich habe das Handy und den Koffer hier und werde sie mir gleich mal vornehmen. Chu liefert gerade Chang ein.«
Ferras zögerte. Zur Official Police Garage zu gehen und dort die Durchsuchung von Changs Auto zu beaufsichtigen, bedeutete für ihn offensichtlich, sich schon zu weit von dem sicheren Hort zu entfernen, den der Bereitschaftsraum für ihn darstellte.
»Ähm, Harry? Sollte das Handy nicht lieber ich übernehmen? Ich meine, du hast dein Multifunktionshandy gerade mal einen Monat.«
»Das bekomme ich schon hin.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ganz sicher. Außerdem habe ich es schon hier. Geh du ruhig in die Garage und sieh zu, dass sie auch hinter den Türverkleidungen und im Luftfilter nachsehen. Ich hatte mal einen Mustang. Da konnte man im Luftfilter problemlos eine Fünfundvierziger verstecken.«
Mit
sie
waren die Mechaniker der OPG gemeint. Sie würden Changs Auto auseinandernehmen, während Ferras die Durchsuchung nur beaufsichtigte.
»Alles klar«, sagte Ferras.
»Gut. Und ruf mich an, wenn du auf eine Goldader stößt.«
Bosch klappte das Handy zu. Er hielt es nicht für nötig, Ferras jetzt schon von der Entführung seiner Tochter zu erzählen. Ferras hatte selbst drei kleine Kinder, und in einer Situation, in der Bosch darauf angewiesen war, dass er sein Bestes gab, wäre es sicher kontraproduktiv, ihm vor Augen zu führen, wie angreifbar er war.
Bosch stieß sich vom Schreibtisch zurück und drehte sich mit dem Stuhl zu Changs großem Koffer, der an der Wand des Abteils auf dem Boden stand. Auf eine Goldader zu stoßen hieß in diesem Fall, die Mordwaffe unter den Habseligkeiten des Verdächtigen zu finden. Da Chang auf dem Weg zum Flughafen gewesen war, wusste Bosch, dass in seinem Koffer kein Gold zu entdecken wäre. Falls sich die Waffe, mit der John Li erschossen worden war, überhaupt noch in Changs Besitz befand, war sie am
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