Harry Bosch 15 - Neun Drachen
dem Weg zurück ins PAB rief Bosch per Schnellwahl seine Ex-Frau an. Sie meldete sich mit einer bangen Frage.
»Irgendwas Neues, Harry?«
»Nicht viel, aber wir bleiben dran. Ich bin ziemlich sicher, dass das Video, das sie mir geschickt haben, in Kowloon aufgenommen wurde. Sagt dir das irgendwas?«
»Nein. In Kowloon? Warum dort?«
»Keine Ahnung. Aber möglicherweise gelingt es uns, das Haus zu finden.«
»Du meinst doch, die Polizei?«
»Nein, ich meine dich und mich, Eleanor. Wenn ich nach Hongkong komme. Übrigens muss ich erst noch meinen Flug buchen. Hast du schon mit jemandem telefoniert? Was hast du rausgefunden?«
»Nichts habe ich rausgefunden!«,
brach es zu Boschs Überraschung aus ihr hervor. »Meine Tochter ist spurlos verschwunden, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo sie sein könnte! Und die Polizei glaubt mir nicht mal!«
»Was sagst du da? Hast du sie schon angerufen?«
»Ja, ich habe sie angerufen. Ich kann doch nicht einfach nur hier herumsitzen und warten, bis du morgen auftauchst. Ich habe beim Triad Bureau angerufen.«
Bosch spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Wenn das Leben seiner Tochter auf dem Spiel stand, brachte er es nicht über sich, Fremden zu vertrauen, selbst wenn sie auf so etwas spezialisiert waren.
»Was haben sie gesagt?«
»Sie haben meinen Namen in den Computer eingegeben und einen Treffer erhalten. Die Polizei hat eine Akte über mich. Wer ich bin, für wen ich arbeite. Und sie wussten auch von dieser Geschichte damals: als ich dachte, sie wäre entführt worden, und sich dann herausstellte, dass sie bei einer Freundin übernachtete. Deshalb haben sie es nicht ernst genommen. Sie denken, sie ist wieder ausgebüchst und ihre Freundinnen sagen mir nicht, wo sie ist. Sie meinen, ich soll einen Tag warten und dann noch mal anrufen, wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht ist.«
»Hast du ihnen von dem Video erzählt?«
»Habe ich, aber das hat sie überhaupt nicht interessiert. Sie meinten, wenn es keine Lösegeldforderung gäbe, wäre es wahrscheinlich nur von ihr und ihren Freundinnen inszeniert, um etwas Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie glauben mir nicht!«
Sie begann vor Frustration und Angst zu weinen. Bosch gelangte jedoch nach kurzem Überlegen zu der Ansicht, dass die Reaktion der Polizei von Vorteil für sie sein könnte.
»Eleanor, hör zu, ich glaube, das ist sogar gut für uns.«
»Gut? Wie soll das gut sein? Die Polizei sucht nicht mal nach ihr.«
»Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich die Polizei nicht dabeihaben will. Wenn die Polizei anrückt, riechen das Maddies Entführer doch zehn Kilometer gegen den Wind. Aber mit mir rechnen sie bestimmt nicht.«
»Wir sind hier nicht in L.A., Harry. Du kennst dich hier nicht annähernd so gut aus wie dort.«
»Ich finde mich schon zurecht, und du wirst mir helfen.«
Sie antwortete erst nach längerem Schweigen. Inzwischen hatte Bosch fast das PAB erreicht.
»Harry, versprich mir, dass du sie zurückbekommst.«
»Das werde ich, Eleanor«, antwortete Bosch ohne Zögern. »Das verspreche ich dir. Ich bekomme sie zurück.«
Er betrat das Foyer und hielt sein Sakko auf, damit die Diensthabenden an der schicken neuen Rezeption die Dienstmarke an seinem Gürtel sehen konnten.
»Ich fahre jetzt gleich im Lift nach oben«, sagte er. »Wahrscheinlich wird die Verbindung abbrechen.«
»Okay, Harry.«
Aber er blieb vor den Liften stehen.
»Da fällt mir noch was ein. Hieß eine von Maddies Freundinnen, mit denen du telefoniert hast, He?«
»He?«
»Ja,
H-E.
Maddie meinte, es bedeute ›Fluss‹. Sie hat mir erzählt, so heißt eine ihrer Freundinnen, mit denen sie sich in der Mall trifft.«
»Wann war das?«
»Meinst du, wann sie es mir erzählt hat? Erst vor ein paar Tagen. Am Donnerstag, glaube ich. Richtig, Donnerstagmorgen, als sie zur Schule ging. Ich habe mit ihr telefoniert und sie aufs Rauchen angesprochen, weil du mir doch erzählt hast, dass sie …«
Eleanor unterbrach ihn mit einem verächtlichen Laut.
»Was ist?«, fragte Bosch.
»Deshalb war sie in letzter Zeit so unausstehlich zu mir«, sagte sie. »Weil du mich verpetzt hast.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe ihr kürzlich ein Foto geschickt, weil mir klar war, dass sie mich dann sofort zurückrufen würde und die Rede ganz zwangsläufig aufs Rauchen käme. So war es dann auch. Und als ich ihr ins Gewissen geredet habe, bloß nicht mit dem Rauchen anzufangen, hat sie diese He erwähnt. Bei dieser Gelegenheit hat
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