Harry Bosch 15 - Neun Drachen
ehesten in seinem Auto oder in seiner Wohnung. Oder er hatte sie längst verschwinden lassen.
Dennoch konnte der Koffer wertvolle Informationen und belastende Beweise enthalten – einen Blutstropfen des Opfers auf der Manschette eines Hemds zum Beispiel. Vielleicht hatten sie Glück. Dennoch wandte sich Bosch wieder dem Schreibtisch zu und beschloss, mit dem Handy anzufangen. Er würde nach anderem Gold suchen. Nach digitalem Gold.
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B osch brauchte keine fünf Minuten, um festzustellen, dass Bo-Jing Changs Handy für die Ermittlungen nur von geringem Nutzen war. Er fand das Anrufverzeichnis ohne Probleme, aber es enthielt nur drei Anrufe, zwei ausgehende, beide an gebührenfreie Nummern, und einen eingehenden. Alle drei Gespräche waren an diesem Morgen geführt worden. Sonst waren keine Anrufe gespeichert. Die Vergangenheit des Telefons war gelöscht worden.
Vom Hörensagen wusste Bosch, dass digitale Spuren unauslöschlich waren. Mit Hilfe aufwendiger kriminaltechnischer Verfahren ließen sich deshalb die vom Handy entfernten Daten wahrscheinlich wiederherstellen, aber bei seinen aktuellen Problemen wäre ihm das Handy keine Hilfe. Er rief die 800er-Nummern an und stellte fest, dass sie von Hertz Car Rental und Cathay Pacific Airways waren. Vermutlich hatte sich Chang nach den Abflugzeiten erkundigt und einen Leihwagen von Seattle nach Vancouver gebucht, um von dort nach Hongkong weiterzufliegen. Die Nummer des eingehenden Anrufs fand Bosch im Invers-Telefonverzeichnis. Es war die von Tsing Motors, Changs Arbeitsplatz. Da über den Inhalt des Anrufs nichts bekannt war, steuerte die Telefonnummer keine neuen Beweise oder Erkenntnisse zum Ermittlungsverfahren bei.
Bosch hatte gehofft, das Handy würde ihnen nicht nur grundsätzlich zu neuen Informationen über Chang verhelfen, sondern vielleicht auch Hinweise auf sein genaues Ziel in Hongkong enthalten und somit auch auf den Ort, an dem Maddie festgehalten wurde. Umso tiefer war deshalb seine Enttäuschung. Aber er wusste, er musste sich jetzt mit anderen Dingen beschäftigen, um sich nicht länger damit aufzuhalten. Deshalb steckte er das Handy in die Beweismitteltüte zurück und machte auf dem Schreibtisch Platz für den Koffer.
Er wuchtete das schwere Monstrum, dessen Gewicht er auf mindestens fünfundzwanzig Kilo schätzte, auf den Schreibtisch. Nachdem er mit einer Schere das Beweismittel-Tape durchtrennt hatte, das Chu um den Reißverschluss angebracht hatte, stellte er fest, dass der Koffer mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert war. Er holte seine Picks heraus, und keine dreißig Sekunden später hatte er das billige Schloss geknackt. Er öffnete den Reißverschluss und klappte den Koffer auf, so dass er in zwei gleich große Hälften aufgeteilt vor ihm lag.
Bosch beschloss, mit der linken Seite zu beginnen, und löste die zwei diagonalen Riemen, die den Inhalt fixierten. Er nahm ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus, untersuchte es und legte es auf das Bord über seinem Schreibtisch, auf dem er seit dem Umzug in das neue Gebäude noch nichts abgestellt hatte.
Es sah so aus, als hätte Chang seine gesamten Habseligkeiten in den Koffer gestopft. Die Kleider waren zusammengeknüllt und nicht wie für eine sorgfältig geplante Reise ordentlich gefaltet.
In der Mitte jedes Kleiderknäuels befand sich ein Schmuckstück oder ein anderer persönlicher Gegenstand. In einem entdeckte Bosch eine Uhr, in einem anderen eine alte Babyrassel. Das letzte Knäuel enthielt einen kleinen Bambusrahmen mit einem verblichenen Foto einer Frau. Changs Mutter, nahm Bosch an.
Schon nachdem er die Hälfte des Koffers durchsucht hatte, war ihm klar, dass Chang nicht vorgehabt hatte, zurückzukommen.
Als Nächstes löste Bosch die Abdeckung, mit der die rechte Kofferhälfte verschlossen war, und klappte sie über die inzwischen leere linke Hälfte. Darunter kamen weitere Kleiderknäuel, Schuhe und ein Kulturbeutel zum Vorschein. Zuerst nahm Bosch die Kleider heraus und untersuchte sie. Das erste Knäuel enthielt eine kleine Jade-Buddhastatue mit einer kleinen Schale zum Verbrennen von Räucherstäbchen oder Opfergaben. Das zweite Kleidungsstück war um ein Messer gewickelt, das in einer Scheide steckte.
Die Klinge des Sammlerstücks war kaum länger als zehn Zentimeter, und auf seinem geschnitzten Elfenbeingriff waren mit Pfeil und Bogen, Messern und Äxten bewaffnete Krieger abgebildet, die eine Gruppe betender unbewaffneter Männer niedermetzelten. Bosch
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